von Gabriele Muthesius
Das nach fünfjähriger Dauer am 11. Juli 2018 im Münchner NSU-Prozess ergangene Urteil lautete lebenslänglich für die Hauptangeklagte Beate Zschäpe – überdies wurde besondere Schwere der Schuld festgestellt – sowie auf Haftstrafen von zweieinhalb bis zehn Jahren für ihre vier Mitangeklagten.
Die am 21. April 2020 – 650 Tage später und nur 36 Stunden, bevor das Verfahren wegen Fristüberschreitung hätte neu eröffnet werden müssen – vom Vorsitzenden Richter des 6. Strafsenats des Münchner Oberlandesgerichts, Manfred Götzl, und seinen beisitzenden Kollegen präsentierte, 3025 Seiten umfassende Urteilsbegründung, die der Autorin seit kurzem vorliegt, darf durchaus als Bestätigung der zentralen Kritikpunkte interpretiert werden, die im Hinblick auf den Prozess, das Urteil sowie die mangelhafte behördliche Aufklärung des gesamten NSU-Komplexes von der Verteidigung, den Opferfamilien (Nebenklägern) und in den Medien vielfach geltend gemacht worden sind. (Einiges davon hatte ich in einem Blättchen-Beitrag unmittelbar nach der Urteilsverkündung zusammengetragen.)
So liefert das Urteil zu allen dem NSU-Trio Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe zur Last gelegten Verbrechen – zehn Morde, zwei Sprengstoffattentate und 15 Raubüberfälle – so minutiöse Tatvorbeitungs- und -hergangsdarstellungen, als wären die Richter quasi unmittelbare Beobachter der Vorgänge gewesen. So heißt es etwa zur „Tat zulasten von Enver Şimşek in Nürnberg am 09. September 2000“ (sogenannter erster NSUMord): „Am 09. September 2000 kurz vor 13:00 Uhr stand das Opfer auf der Ladefläche seines Transporters, den er hinter seinem mobilen Blumenverkaufsstand in der Liegnitzer Straße geparkt hatte. Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt traten an die geöffnete Schiebetür an
der Beifahrerseite des Transporters heran, um Enver Şimşek zu töten. […] Entsprechend dem gemeinsamen Tatplan gab Uwe Böhnhardt oder Uwe Mundlos […] sofort und für das Opfer vollkommen unerwartet mit der Pistole Ceska 83 Kaliber 7,65 mm mit der Waffennummer 034678 […] vier Schüsse auf Kopf und Körperzentrum des Geschädigten ab, um diesen zu töten. […] Der andere der beiden Männer gab mit der Pistole Bruni Modell 315 Kaliber 6,35 mm mit der Waffennummer 012289 mindestens einen Schuss in Richtung des Kopfes des Geschädigten ab.“ ( Zur Gesamtdarstellung dieser Tat in der Urteilsbegründung hier klicken) Und zum „Anschlag in der Probsteigasse in Köln im Dezember 2000/Januar 2001“ (Sprengstoffattentat) heißt es: „Nach ihrem gemeinsamen Plan hatten Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt […] die Aufgabe, vor Ort in Köln tätig zu werden. […] Einer von beiden betrat, während der andere vor dem Laden wartete, am späten Nachmittag mit einem Weidenkorb, in dem sich der Sprengsatz, versteckt in einer metallenen Christstollendose befand, den Laden
und traf dort auf den Ladeninhaber […]. Um einen Einkauf vorzutäuschen, sammelte er einige Lebensmittel in dem Laden ein und legte diese in den Weidenkorb zu der roten, weihnachtlich mit Sternen verzierten Christstollendose mit der Sprengvorrichtung. […] Unter dem Vorwand, sein vergessenes Portemonnaie aus der nahegelegenen Wohnung holen und umgehend zurückkehren zu wollen, stellte der Täter den Korb […] an der Kasse des Ladengeschäfts ab […] und begab sich zu seinem wartenden Mittäter.“ (Zur Gesamtdarstellung dieser Tat in der Urteilsbegründung hier klicken.) Und so weiter und so fort.
Gedeckt durch die Beweisaufnahmen im Prozess selbst sind diese Darstellungen in ihrem Kernpunkt, dem Tatvorwurf gegenüber Mundlos und Böhnhardt, hingegen in keinem einzigen Fall. Denn für alle 27 mutmaßlichen NSU-Tatorte konnten die Ermittler (Bundeskriminalamt) keine forensischen Nachweise (Fingerabdrücke, DNA) für die physische Anwesenheit von Mundlos und Böhnhardt zu den Tatzeitpunkten erbringen und die Anklagebehörde (Bundesanwaltschaft) vulgo im Prozess auch nicht vorlegen. Dasselbe gilt für Zeugenaussagen und erstellte Phantombilder. Eine in der deutschen Kriminalgeschichte singuläre Serie (siehe ausführlich Blättchen-Ausgabe 10/2017).
Dass Richter Götzl auf ein stenografisches Protokoll der Hauptverhandlung ebenso verzichtete wie auf eine Bandaufzeichnung der 438 Verhandlungstage ist zwar, so Annette
Ramelsberger von der Süddeutschen Zeitung (SZ), eine „Praxis aus der Zeit, als die Strafprozessordnung entstand: Das war 1877“, aber so ist leider nicht „offiziell“ feststellbar, wie oft in diesem Prozess der Begriff „Verfassungsschutz“ zur Sprache kam. „[…] tausendfach“, meint jedenfalls Tom Sundermann (DIE ZEIT) mit Verweis auf die zahlreichen „Gelegenheiten, bei denen Sicherheitsbehörden und Ermittler gepatzt haben“ und „Situationen, in denen die drei untergetauchten Rechtsextremisten mutmaßlich rechtzeitig hätten gefasst werden können“. Weitgehend protokolliert haben die Verhandlungen dagegen die Prozessbeobachter der SZ; die vier Bände mit zusammen 1860 Seiten samt einem zusätzlichen Materialband wurden im Jahre 2018 publiziert. Darinnen immerhin um die 90 Verhandlungstage mit direkten Bezügen zum Verfassungsschutz – inklusive des Sachverhalts, dass sich am Tatort des 6. Juni 2006 in Kassel, wo Halit Yozgat in seinem Internetcafé ermordet wurde, zum Tatzeitpunkt mit Andreas Temme ein Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes aufgehalten hat. Temme selbst war im Münchner Prozess mehrfach vernommen worden. Doch in der voluminösen Urteilsbegründung von Götzl und Kollegen kommen der Begriff „Verfassungsschutz“ und der Name Temme überhaupt nicht vor. Es dürften nicht zuletzt Ungereimtheiten wie diese sein, die Nebenkläger wie deren Anwälte
erneut zu teils geharnischter Kritik am gesamten Prozess veranlasst haben. Die Urteilsbegründung hätte Ergebnisse des Verfahrens „bis zur Unkenntlichkeit verkürzt oder dreist verschwiegen“ und gezeigt, dass die Richter „kein Interesse an einer Aufklärung hatten“. Nach deutscher Rechtspraxis steht der Nebenklage im Falle einer Täterverurteilung allerdings kein Recht auf Revision zu.
Revision eingelegt hat indes die Bundesanwaltschaft und zwar gegen das aus deren Sicht mit bloß zweieinhalb Jahren zu niedrige Urteil gegen Zschäpes Mitangeklagten André Eminger, das Neonazis am 11. Juli 2018 im Gerichtssaal mit Johlen begrüßt hatten. Götzl und Kollegen hatten Eminger in vier von fünf Anklagepunkten freigesprochen und aus dem Gerichtssaal auf freien Fuß gesetzt – jenen Mann, der 13 Jahre lang Vertrauter von Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt gewesen war. Der hatte dem Trio unter seinem Namen eine Wohnung angemietet, hatte Einkäufe erledigt, den beiden Uwes auch mal seine Krankenkassenkarte zur Verfügung gestellte, ihnen dreimal zu einem (angemieteten) Wohnmobil verholfen und vieles andere mehr. Daher erläuterte Oberstaatsanwalt Jochen Weingarten von der Bundesanwaltschaft, die gegen Eminger zwölf Jahre beantragt hatte: Es sei nicht glaubhaft, dass Eminger die ganze Zeit lang quasi nur neben dem NSU-Trio „hergetrottet“ sei, ohne Fragen zu stellen. Etwa: „Wovon lebt ihr eigentlich, warum im Untergrund, und was macht ihr eigentlich den ganzen Tag lang?“ Doch genau so sah es offenbar der Götzl-Senat und attestierte jetzt: „Eine derartige lockere persönliche Beziehung in Zusammenschau mit ihrer ideologischen
Verbundenheit eröffneten (sic! – G.M.) für den Angeklagten Eminger jedoch keine tiefgehenden Einblicke in die Lebensumstände der drei untergetauchten Personen.“ Und daraus schloss „der Senat, dass der Angeklagte Eminger bei lebensnaher Betrachtung davon
ausgegangen ist, die drei würden ihren Lebensunterhalt aus grundsätzlich erlaubten und nicht schwerstkriminellen Quellen bestreiten“.
Das abenteuerlichste Konstrukt freilich komponierten Götzl und Kollegen mit Ihrer Begründung der unmittelbaren Beteiligung von Zschäpe an den Mundlos und Böhnhardt zugeschriebenen Verbrechen und damit zum Nachweis ihrer direkten Mittäterschaft sowie des verhängten Urteils lebenslänglich, mit besonderer Schwere der Schuld – und zwar mit der ebenso feinsinnigen wie sophistischen Anschuldigung, dass gerade Zschäpes offenkundige
Abwesenheit von allen Tatorten den Kern ihrer Mittäterschaft bilde. Oder in bestem Juristendeutsch: „Gemäß dem gemeinsam gefassten Tatkonzept und der gemeinsam durchgeführten konkreten Tatplanung wäre die Anwesenheit der Angeklagten Zschäpe am Tatort und die Begehung einer tatbestandsverwirklichenden Ausführungshandlung dort durch sie planwidrig gewesen. Vielmehr waren nach diesem Konzept gerade ihre Abwesenheit vom Tatort im engeren Sinne und ihr Aufenthalt in oder im Nahbereich der jeweiligen Wohnung geradezu Bedingung dafür, dass die jeweiligen Taten überhaupt begangen werden konnten. Denn nur durch die örtliche Aufteilung der Angeklagten Zschäpe einerseits sowie Uwe
Mundlos’ und Uwe Böhnhardts andererseits war gesichert, dass die von allen drei Personen gewollte Legendierung der Wohnung erfolgt und dass der festgestellte ideologische Zweck der Gewalttaten letztendlich erreicht werden würde. Da die Schaffung eines sicheren Rückzugsraums und die Erreichung des ideologischen Zwecks der Tatserie bei der Angeklagten Zschäpe als auch bei den beiden Männern Bedingung für die Begehung einer Tat war, hatte die Angeklagte Zschäpe durch das Erbringen ihres Tatbeitrags bestimmenden Einfluss auf das ‚Ob‘ der Taten, also ob sie überhaupt begangen wurden.“ Auf vergleichbare Weise begründete der Senat auch Zschäpes direkten Einfluss auf das „Wo“, „Wann“ und
„Wie“ der Tatausführungen.
Dass eine solche Interpretation der juristischen Tatbestände der Mittäterschaft und der Beihilfehandlung höchstrichterlicher Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (BGH) seiner Auffassung nach eklatant widerspreche, hat Zschäpe-Anwalt Mattias Grasel bereits in seinem Schlussvortrag während des Prozesses ausgeführt und begründet. Revision gegen das Urteil eingelegt haben neben Grasel auch Zschäpes ursprüngliche Pflichtverteidiger Anja Sturm und Wolfgang Heer mit einen Schriftsatz sowie Wolfgang Stahl mit einem eigenen gesonderten.
Schnell weitergehen wird es deswegen nun aber nicht. Mit einer Entscheidung des BGH über Annahme oder Ablehnung der Revisionen rechnen Experten erst in ungefähr zwei Jahren. Erst dann wird man wissen, ob der NSU-Prozess neu aufgerollt werden muss.
Ursprünglich erschienen am 20. Juli 2020 in Das Blättchen 15/2020