Der erste Zeuge, der die Opfer bemerkte, war der Anwohner Peter S.: Gegen 14:08 radelte er über die Fußgänger- und Radbrücke des Neckarkanals zum heilbronner Bahnhof, um sich dort über Zugverbindungen zu informieren. Als er an der Theresienwiese (TW) vorbeifuhr, sah er „aus dem Augenwinkel“ ein Fahrzeug, aus dem „etwas hinaushing“. Er drehte um und fuhr zurück. Er sah einen blutverschmierten Polizisten, dessen Oberkörper aus dem Streifenwagen heraushing. Obwohl er ein Handy dabei hatte, an das er allerdings „in der Aufregung nicht daran dachte“1, fuhr er zum Bahnhof und alarmierte den Taxifahrer Mustafa K.. Peter S. sagte: „Ruf die Polizei, es sind zwei Polizisten erschossen worden oder angeschossen worden. Die liegen neben ihrem Auto.”2
Mit seinem Handy rief Mustafa K. das heilbronner Polizeirevier an, nicht den Notruf, um exakt 14:12:24. Im Gegensatz zu seiner damaligen Darstellung behauptete Peter S. in seiner gerichtlichen Aussage 2014, dass er damals kein Handy dabei gehabt hätte.3
Im Polizeirevier gab der wachhabende Polizist die Zeugenaussage weiter: Auf der TW wurden „zwei Polizisten erschossen”4. Auch am Taxistand bestätigten weitere Zeugen, dass Peter S. von zwei erschossenen Polizisten sprach. Es handelte sich um die Taxifahrer Mustafa K., Ralf D. sowie Marianne H.. Die Taxifahrer Ralf D. und Marianne Barbara H. fuhren daraufhin in einem Taxi gemeinsam zur TW. In einem Interview mit der Süd-West Presse sagte Ralf D. im Jahr 2015, dass er sich den Opfern alleine genähert hätte. Seine Beifahrerin Marianne H. hätte sich vorsichtshalber versteckt, weil sie befürchtete, die Täter könnten noch in der Nähe sein.5
Das Problem ist: Peter S. konnte weder auf seiner angegebenen Wegstrecke noch von seinem Standort Arnold sehen, weil er hinter dem Streifenwagen auf dem Boden lag. Der Blick auf Arnold war durch den Streifenwagen verstellt. Außerdem konnte Peter S. auch keine Schusswunden bemerken, da er in einiger Entfernung auf dem Radweg verblieb. Er hörte auch bei der Anfahrt keine Schüsse. Wie konnte er dann aussagen, dass zwei Polizisten erschossen worden wären? Am 28. April widersprach er den Zeugen: Er hätte dem Taxifahrer lediglich von einem einzigen verletzten Polizisten berichtet: „Ich sagte zu ihm, (…) dort hinten liegt ein verletzter Polizist. (…) Mehr konnte ich aber nicht erkennen. Einen zweiten Polizisten habe ich auch nicht gesehen.“6 Er wies darauf hin, dass der Oberkörper auf einer besonderen Weise aus dem Wagen hing, „so als würde er auf dem Türschweller aufliegen.“ Am 1. Mai fand mit Kriminalpolizisten eine Ortsbegehung statt. Peter S. unterstrich, dass er immer auf Distanz zum Tatort blieb. Am 25. März 2008 wurde er zur Sache vernommen, mit einer entlastenden Bewertung.7
Warum näherte sich Peter S. nicht dem Streifenwagen, sondern blieb am Radweg stehen? Der Polizist könnte auch wegen eines Unfalls blutend aus dem Wagen herausgehangen sein. Warum fuhr er stattdessen zum Bahnhof und meldete zwei erschossene Polizisten?
Quelle: © OpenStreetMap-Mitwirkende8
Meldung im Polizeirevier um 14:18 verbreitet
Am 01. Mai befragte die Sonderkommission (Soko) den wachhabenden Polizisten im Polizeirevier, der den Anruf von Mustafa K. entgegennahm. Er beschrieb, dass Kommunikationsprobleme mit Mustafa K. aufgetreten seien. Deshalb kam es zu „Rückfragen” mit dem „eigentlichen Finder” Peter S.. Wegen der zeitlichen Verzögerung konnte er erst „um 14.18“9 den Hinweis an Joachim T. weitergeben, der daraufhin zum Tatort fuhr. Bereits vier Minuten früher informierte allerdings das Polizeirevier per Funk das Führungs- und Lagezentrum (FLZ) über die erschossenen Polizisten. Die heilbronner Polizei gibt als Uhrzeit 14:14:28 an, als das Revier als Dora 5/31 an das FLZ, Dora 5/21, die Meldung funkte. Es handelte sich um die „erste Funkmeldung über das Geschehen“10 .
Jamil-Ahmad C. kam zweimal am Tatort vorbei
Der Libanese Jamil-Ahmad C. war Europa-Chef der schiitischen „Amal-Bewegung“ und stand deshalb im Kontakt zum Verfassungsschutz.11 Die Süd-West-Presse berichtete 2015, dass „zu seiner Person (…) umfangreiche Staatsschutzerkenntnisse“12 vorliegen, „welche allesamt als Verschlusssache eingestuft seien.“ Ermittler vernahmen ihn am 26. April und 16. Mai 2007, 22. April 2009 sowie am 12. August 2010. Seine Aussagen zusammengefasst sind:
Er kam am Tattag zwei Mal am Trafohaus vorbei. Er ging mittags zu Fuß auf dem Fußgänger- und Radweg neben der TW entlang in Richtung Bahnhof. Was er am Bahnhof wollte, steht nicht in den Akten. Gegen 14:00 ging er wieder nach Hause zurück. Was passierte dann?
Jamil-Ahmad C. befand sich an der Frankfurter Straße, als er einen Mercedes „A-Klasse“, in beiger Taxifarbe, auf die TW rasen sah. Im Soko-Abschlussbericht steht, dass C. „von der Bahnhofstraße in die Frankfurter Straße eingebogen“13 sei. Außerdem wird er als „Taxifahrer“14 bezeichnet. Hatte die Soko den Verdacht, dass C. selbst im Taxi saß? In seiner zweiten Vernehmung äußerte er sich nebulös: „Gegen 13.50 Uhr habe ich das Taxi aus der Schützenstraße in Richtung Theresienwiese fahren gesehen und ca., 3 Minuten später, also gg. 13,53 – 13.55 Uhr war ich dann am Tatort.“15
Laut C. raste das Taxi auf das Trafohaus zu und stoppte. Als er sich auf dem Radweg dem Trafohaus weiter näherte, sei das Taxi vom Tatort weggefahren. Schließlich stand er 1-2 Meter neben den überfallenen Polizisten und informierte einen Radfahrer, der „auch zum Streifenfahrzeug heruntergefahren“16 sei: „Ich sagte ihm, da sind zwei Polizisten erschossen worden.“17 Im UA widersprach er im Jahr 2015: „Das stimmt nicht, nein. Ich habe mit niemandem geredet, keinem, meine ich.“ Er konnte aber den Radfahrer als Uwe Böhnhardt identifizieren.18 Mevlüt K. kenne er nicht: „Aber wenn er Türke ist, dann kenne ich ihn sicher nicht.“ Nach dem Eintreffen der ersten Streife, schickte ihn eine Polizistin vom Tatort weg. Als er am Nachmittag wieder in die Stadt lief, wurde er an einer Brücke kontrolliert. Bei dieser Gelegenheit bot er sich als Zeuge an. In seiner vierten Vernehmung am 12. August 2010 vermutete er, dass der Mörder von einem Taxi abgeholt worden wäre.19 Das Wortprotokol dieser Vernehmung fehlt in den Hauptakten.
Der letzte Soko-Chef Axel Mögelin bewertete C. als einen wichtigen Zeugen, weil er als einer der ersten am Tatort war. Seine Aussage, dass ein taxiähnlicher Wagen von der TW weggefahren wäre, ist allerdings widersprüchlich: „Problem war, dass der Zeuge was gesehen hat, was sonst eben keiner gesehen hat. Und das, was er eigentlich hätte sehen müssen, nämlich ein kommendes Taxi, was nachgewiesen ist, das hat er nicht gesehen.“20 Die Ermittler fragten offenbar vergeblich bei den Taxizentralen nach, ob Mercedes als Taxis in Heilbronn herumfahren: „Man hat probiert, weil der Fahrzeugtyp relativ eingegrenzt war, bei den Taxizentralen das Taxi zu ermitteln. Das hat man nicht gemacht, bzw. da gab es keine sachdienlichen Hinweise, sodass man ein solches Taxi nicht ermitteln konnte.“ Tatsächlich nutzte keiner der genannten Taxifahrer einen solchen Fahrzeugtyp, sondern Audi, VW oder Peugeot.
Verbindung Jamil-Ahmad C. zum NSU-Umkreis?
Im September 1992 wurden im Berliner Restaurant „Mykonos“ vier iranisch-kurdische Exilpolitiker erschossen. Jamil-Ahmad C. traf sich in Heilbronn mit einem der Männer, die wegen Mordverdacht gesucht wurden. Seine Zeugenaussage vor Gericht wurde im Urteil als „weitschweifig, ausweichend und widersprüchlich“21 bewertet. Die Bundesanwaltschaft bezeichnete den Rechtsextremist Thomas Starke im Jahr 2000 als „langjährige Vertrauensperson“. Er hätte Ende der 90er Jahre den Sprengstoff für die Bomben des national-sozialistischen-Untergrunds (NSU) beschafft und war Zschäpes Liebhaber. Kai Voss schreibt, dass ausgerechnet Starke Hinweise auf den iranischen Täterkreis beim „Mykonos“-Attentat gegeben hätte.22
Neue Artikelserie über heilbronner Polizistenüberfall | http://friedensblick.de/31833/neue-artikelserie-ueber-heilbronner-polizistenueberfall/ |
Einführung | http://friedensblick.de/31840/einfuehrung-der-tiefe-staat-im-mordfall-kiesewetter/ |
Teil 1 | https://friedensblick.de/31849/teil-1-michele-kiesewetter-und-martin-arnold-waren-bei-der-bereitschaftspolizei-boeblingen/ |
Teil 2 | http://friedensblick.de/31864/teil-2-einsaetze-ihrer-beweissicherungs-und-festnahmeeinheit-523-im-tatzeitraum/ |
Teil 3 | http://friedensblick.de/31873/teil-3-die-vorgeschichte-des-polizistenmordes/ |
Teil 4 | http://friedensblick.de/31876/teil-4-der-tatort-theresienwiese-in-heilbronn-umschlagszentrum-des-menschenhandels/ |
Teil 5 | http://friedensblick.de/31884/teil-5-entdeckung-durch-den-radfahrer-peter-s-gegen-1408/ |
Teil 6 | http://friedensblick.de/31889/teil-6-reaktion-der-heilbronner-polizei/ |
Teil 7 | http://friedensblick.de/31899/teil-7-tatrekonstruktion-und-operative-fallanalyse/ |
Teil 8 | http://friedensblick.de/31915/teil-8-welche-einsaetze-fanden-am-tattag-in-heilbronn-und-neckarsulm-statt/ |
Teil 9 | http://friedensblick.de/31923/teil-9-wie-reagierten-die-bereitschaftspolizisten/ |
1Ordner (O.). 4-2, Seite (S.) 102, Vermerk vom 25.04.07
2O. 4-1, S. 251, A. a. 25.04.07, um 15.08 Uhr
3NSU-watch, 76. Verhandlungstag, 21.01.14, https://www.nsu-watch.info/2014/01/protokoll-76-verhandlungstag-21-januar-2014/: „Er habe kein Handy dabei gehabt und sei zum Bahnhof gefahren, der sei nicht weit entfernt.“
4O. 2, S. 495, Vermerk vom 15.05.07
5Süd West Presse, „Taxifahrer fühlte sich wie in einem Krimi“, 19.09.15, online:https://www.swp.de/politik/inland/taxifahrer-fuehlte-sich-wie-in-einem-krimi-21239987.html
6O. 4-2, S. 104, A. a. 28.04.07
7O. 4-2, S. 112, Nachtrag zur Spur Nr. 13 vom 25.03.2008: „Die „Widersprüche” in seiner Vernehmung zu den Vernehmungen K., D. und H. sind durchaus schlüssig von Herrn S. erklärt worden.“
8www.openstreetmap.org/copyright
9O. 2, S. 494, Vermerk vom 01.05.07: „Auf Nachfrage erklärte POM K., dass er die Uhrzeit 14.18 Uhr von seiner Armbanduhr abgelesen habe. Ein Abgleich seiner Armbanduhr mit der im Funkraum des Polizeireviers Heilbronn vorhandenen Funkuhr am 30.04.2007 ergab, dass die Uhrzeiten, plus / minus 30 Sekunden, identisch sind.“
10O. 1, S. 25
11Landtag Baden-Württemberg, NSU-UA, 33. Sitzung, 09.11.15, S. 91
12Süd-West Presse, „Ein Zeuge unter Verdacht“, 19.09.15, https://www.swp.de/politik/inland/ein-zeuge-unter-verdacht-21239911.html
13O. 1, S. 36
14O. 1, S. 163
15O. 4-1, S. 81, A. a. 16.05.07
16O. 4-1, S. 87, 23.04.09
17O. 4-1, S. 81, A. a. 16.05.07
18Vgl. Landtag Baden-Württemberg, NSU-UA, 33. Sitzung, 09.11.15, S. 92: „(…) Herr Zeuge, ich will zunächst noch mal auf die Geschehnisse am Tattag selber zurückkommen. Sie haben gesagt, der Fahrradfahrer sah ein bisschen so aus wie Böhnhardt, …Z.J. C.:Ja.“
19Vgl. Landtag Baden-Württemberg, NSU-UA, 33. Sitzung, 09.11.15, S. 83: „Vorsitzender Wolfgang Drexler: Sie haben in der Vernehmung vom 12.08.2010 gesagt, es sei jemand in das Taxi – da haben Sie immer nur vom Taxi gesprochen – ein-gestiegen, und das Taxi habe wahrscheinlich den Mörder mitgenommen. Z. J. C.: Wahrscheinlich, das habe ich gesagt, vielleicht, weil das Taxi ist rein- und wie-der rausgefahren.“
20Bundestag, NSU-UA, Protokoll Nr. 12, 26.04.12, S. 49
21Süd-West Presse, „Ein Zeuge unter Verdacht“, 19.09.15, https://www.swp.de/politik/inland/ein-zeuge-unter-verdacht-21239911.html
22Vgl. Kai Voss, aus Buch “Das NSU Phantom: Staatliche Verstrickungen in eine Mordserie”