Michèle wurde am 10. November 1984 in der thüringer Stadt Neuhaus von ihrer Mutter Annette Kiesewetter gebohren und wuchs in Oberweißbach auf. Nach der mittleren Reife ging Michèle Kiesewetter (MK) 2001 in die Fachoberschule. Sie brach aber die Schule ab, um Polizistin zu werden. Laut ihrer Mutter „konnte man da reden was man wollte, sie hatte eben das Ziel Polizei und alles andere war ihr da egal.“1 Ihre Freundin Ina K. erzählte, dass die Polizei ihre „große Liebe“ war, „dafür hätte sie alles getan.“2 Ihre Großmutter erinnerte sich, dass Polizistin deshalb zum Traumberuf ihrer Enkelin geworden wäre, weil sie „neugierig“ war, und Onkel Mike W. hatte ihr „immer vom Polizeiberuf erzählt, so dass Michèle sehr großes Interesse dafür entwickelt hat.“3
Von August 2002 bis Februar 20074 war ihr Onkel mit Anja W. liiert gewesen, die auch Polizistin war. Anja W. berichtete, dass sie ihrer Nichte die thüringer Polizeibehörde nicht als Ausbildungsort empfohlen hätten, denn: „Man bekommt ja auch im Dienst mit, wie teilweise mit Kollegen umgegangen wird, mit kritischen Kollegen, mit Kollegen umgegangen wird, die noch (…) irgendwas bewegen wollen. Wir wollten das dem Mädchen nicht zumuten.“5 Deshalb schickten sie ihre Nichte 2003 von Thüringen weg.
Nach der „Selbstenttarnung des NSU“ warf Anja W. saalfelder Kriminalpolizisten vor, sie hätten „eine Anzeige gegen einen Helfer des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ NSU einfach ignoriert“6. Es geht um den Weggesellen des NSU-Trios zu Zeiten des „thüringer Heimatschutzes“ Andre K., dessen Handy in einer Eisenacher Funkzelle eingeloggt war, als dort am 04. November 2011 die Leichen Mundlos und Böhnhardts gefunden wurden. Daraufhin zeigten sie ihre eigenen Kollegen ihrerseits wegen „falscher Verdächtigung“ an. Die Staatsanwaltschaft Gera klagte Anja W. an. Im November 2012 sollte eigentlich die Gerichtsverhandlung beginnen. Doch jahrelang behinderte das thüringer Innenministerium den Prozessbeginn, wegen fehlender Aussagegenehmigungen oder Gutachten.
Kiesewetter-Onkel sah Verbindung zwischen Überfall und Ceska-Mordserie
Mike W. war bis 2003 in Saalfeld im Bereich „Staatsschutz“ eingesetzt gewesen. Aus der Zeit waren ihm Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt dienstlich bekannt. Danach war er in der Drogenfahndung. Neun Tage nach der Ermordung seiner Nichte wurde er vernommen. Seit Januar 2007 hatte er keinen Kontakt mehr zu seiner Nicht gehabt und konnte daher kaum etwas zur Aufklärung beitragen. Er schloss aus dem „skrupellosen Vorgehen“ der Täter, dass der Hintergrund organisierte Kriminalität gewesen sein könnte, „im Bereich russisch oder georgisch“. Es könnte ein „Zusammenhang mit den den bundesweiten Türkenmorden“ bestehen. „Ein Kollege von der KI 1 hat mich nur angesprochen, dass ein Zusammenhang bestehen könnte.“7 Ende 2011 wurde bekannt, dass der „Kollege von der KI 1“ Uwe M. gewesen sein soll. Der thüringer Untersuchungsausschuss (UA) vernahm Uwe M. und Mike W. am 06. März 2014. Dabei traten unlösbare Widersprüche auf: Beispielsweise hätte laut Uwe M. ihr Gespräch nicht „so nah nach dieser Tötung stattgefunden (…), glaube ich persönlich gar nicht, sondern ich denke, da war eine ganze Zeit vergangen.“8
Laut des Journalisten Thomas Moser wäre für Mike W. der Polizistenüberfall bis heute nicht aufklärt. Er würde sich die Frage stellen: „Warum kann der Staat einen Polizistenmord nicht aufklären?” Und die Antwort, die sich der Onkel des Opfers zurechtgelegt habe, ist gleichfalls eine Frage: “Wird der Mord vielleicht nicht aufgeklärt, weil der Staat beteiligt war?”9
Ab 2005 Bereitschaftspolizistin in Böblingen
Am 01. März 2003 fing MK bei der Bereitschaftspolizei (Bepo) Biberach ihre Ausbildung an. Nach dem Abschluss war sie ab 01. September 2005 Einsatzbeamtin bei der Bepo Böblingen. Sie kam in die Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit (BFE) mit der Nummer 523, die eine Personalstärke von 50 Personen hatte. Der Einheitsführer war Thomas B.. Volker G. (BFE 523) sagte, dass MK auch „öfters“10 an die böblinger Schwestereinheit BFE 522 und die heilbronner Kriminalpolizei (Kripo) ausgeliehen wurde. Der Einheitschef der BFE 522 war damals Andi R.. Er bot im baden-württemberger (bw) UA einen Einblick, siehe Fußnote.11 Die Bepo schickte MK zu unterschiedlichsten Orten und setzte sie in verschiedensten Bereichen ein. Die besondere Stärke von Kiesewetter waren Zivileinsätze als „nicht öffentlich ermittelnde Polizeibeamte“ (noep). MK observierte beispielsweise Banken.12
Private Kontakte mit Kollegen
MK hatte in Nufringen eine Wohnung, in der sie mit Yvonne M. von der BFE 522 zusammenlebte. Sie hatte zusätzlich ein 16 Quadratmeter großes Zimmer in der böblinger Kaserne, dass sie sich mit zwei weiteren Polizistinnen der BFE 523 teilte. Es handelte sich um Romy S. und Simone F.. In diesem sogenannten „Umkleidezimmer“ gab es u. a. drei Kleiderschränke, ein normales Bett sowie ein zweistöckiges Stockbett. Nur in Ausnahmefällen übernachteten sie dort, entweder wenn die Polizisten in der Kaserne feierten, oder wenn zwei Einsätze kurz hintereinander stattfanden.
Konflikte Kiesewetter mit Einheitsleitung und Kollegen
Ihre Kollegen schilderten sie als hervorragende Polizistin: Ihr ebenfalls aus Thüringen stammende Kollege Marcel M. war bis Oktober 2006 in der BFE-523. Er beschrieb sie als aufstiegsorientiert und als „unsere „Edel-Einsatzbeamtin”. „Sie war anpassungsfähig, kommunikativ und passte einfach sehr gut in verschiedene Einsatzlagen.“13 2007 studierte MK nebenbei im Telekolleg, um das Abitur nachzuholen. Sie wollte in der Polizeihochschule studieren. Volker G. (BFE 523) betonte noch am Tattag: MK wäre „mit jedem in meiner Gruppe bestens“ ausgekommen „Daher gehe ich von einem Verbrechen aus, dem die beiden mehr oder weniger zufällig zum Opfer fielen.“14
Trotz ihrer Leistungen und Beliebtheit kam sie nicht ins Stammpersonal der Einheit. Das wäre mit einer Beförderung zur Polizeiobermeisterin verbunden gewesen. Der Leiter des Bepo-Geschäftszimmers Sven H. schilderte, dass „Auswahlgespräche“ stattfanden und ihr „quasi gesagt“ wurde, „dass es zu einer Übernahme nicht kommen wird, was ihre Person angeht.“15 Ihrer Freundin Peggy erzählte MK, dass sie beim Bewerbungsgespräch „wohl zu ehrlich gewesen“16 sei. Was sie damit meinte, wusste Peggy nicht. MK wollte sich zusammen mit ihrem Freund Dominik W., der bei der gleichen Einheit war, in eine andere Dienststelle, in eine andere Stadt versetzen lassen.
Thüringer Polizei schützte Beerdigung
Die thüringer Polizei observierte 2007 den Friedhof, in dem Kiesewetter beigesetzt wurde.17 Obwohl Polizei die Beerdigung bewachte, hatten viele Bereitschaftspolizisten Angst, „dass gleich was passiert“. Daher legten sie sich ihre kugelsicheren Schutzwesten an.18 Manche Kollegen machten gegenüber der Pastorin Beate Kopf Andeutungen, der Mordfall würde nie aufgeklärt werden: „Dass sie schon damals also eigentlich ja schon Vermutungen geäußert haben, gesagt haben, also dass, es entsteht der Eindruck, das geht in Kreise hinein, das wird nie aufgeklärt werden. Weil es nicht aufgeklärt werden soll.“19
Rechtsbeistand stützt behördliche NSU-Darstellung
Als am 25. Januar 2011 die Sonderkommission (Soko) Annette Kiesewetter befragte, erwähnte die Mutter einen Rechtsbeistand: Sie hätte eine Anwältin namens Wolf aus Gera. Die Kripo Saalfeld, ein Herr Uwe M., veranlasste dies. Bei dem „ersten Termin”20 hätte die Anwältin ihr erklärt, dass „sie sich bemühen werde, über die StA [Staatsanwaltschaft] Heilbronn Akteneinsicht zu bekommen. Bisher habe ihr Frau Wolf nichts Neues mitteilen können.”
Am 25. April 2017 sendete der wdr Auszüge aus einem Interview mit Birgit Wolf: Sie war „zu DDR-Zeiten in Gera als Staatsanwältin tätig” gewesen. In ihren Aussagen wird klar, dass Wolf der Anklageschrift der Bundesanwaltschaft folgt, auch wenn „vieles nicht klar”21 sei. Der wdr berichtet weiter, dass schon „drei Wochen nach dem Attentat sie das Mandat für Annette Kiesewetter” übernahm. Frau Wolf scheint dies, in ihren Ausführungen auch so zu bestätigen.22
Martin Arnold
Martin Arnold (MA) wurde am 08. Mai 1982 in Bremen geboren. Im Jahr 2001 erhielt er das Abitur und studierte Wirtschaftsinformatik. Seitdem reparierte er nebenberuflich Computer. Auch für ihn war Polizist ein Traumberuf. So begann er 2004 die Ausbildung bei der Bepo Göppingen, die er am 01. März 2007 abschloss. Anschließend durchlief er die zentrale BFE-Fortbildung, die vom 01. März 2007 bis zum 17. April 2007 in der böblinger Kaserne ging.23 In der Zeit lernte er MK kennen – sie war Unterstützungskraft. In seiner BFE-Ausbildungsklasse war Florian Sp. von der Bepo Bruchsal und Manuel B. von der Bepo Göppingen. Manuel B. wechselte anschließend zur Bepo Bruchsal, Arnold zur Bepo Böblingen.
Wechselte Arnold von der Bereitschaftspolizei Göppingen zum böblinger Standort?
In den Einsatzlisten der BFE 523 taucht Arnolds Name nirgends auf. Es kann sich natürlich auch um einen Fehler handeln, aber: Cedric M. kam ebenfalls von der Bepo Göppingen, absolvierte auch die BFE-Fortbildung und wechselte dann in die BFE 523. Im Gegensatz zu Arnold steht sein Name fünfmal in den Listen. Die Soko-neu befragte daher Polizisten aus einer anderen Einheit, ob sie sich an gemeinsame Einsätze erinnern könnten: Arnold hätte doch am 16. März den G8-Gipfel mit ihnen geschützt. Der dort ebenfalls eingesetzte Hendrik M. (TEZ-512) dementierte jedoch – Arnold war nicht in seiner Gruppe.24 Matthias H. (TEZ 513) wäre mit Arnold am 19. April im US-Objektschutz gewesen, Antwort: „Nein.“25
Während der BFE-Fortbildung wohnte Arnold bei seinen Eltern in Sindelfingen, wo er ein Zimmer hatte. Er übernachtete nur sehr selten im Zimmer seiner Wohngemeinschaft in der böblinger Kaserne. Sein WG-Partner war im April krankgeschrieben und konnte keine sachdienlichen Hinweise geben. Seiner damaligen Freundin Rebecca V. erzählte er lediglich von seinem Zimmer bei der Bepo Göppingen und seinen dortigen Freunden.26
Arnolds Eltern kommen aus Kasachstan. Der bw UA befragte die NSU-Ermittlerin Bettina F., die nach dem 04. November 2011 Befragungen im persönlichen Umfeld durchführte. Sie schilderte, dass bei der Vernehmung seiner Mutter ihr Freund „H. R.“ anwesend war.
„H. R.“ arbeitete beim Bundesamt für Verfassungsschutz als Dolmetscher für die russische Sprache. Der Geheimdienst kündigte ihm jedoch 2006, „weil eben sein Bruder in Verbindung gebracht wurde mit Prostitution, Menschenhandel im Zusammenhang mit russischen Frauen.”27 Der Kündigungsgrund war, dass er seinen Arbeitgeber über diese Verbindung nicht informierte.
Auch die Eltern von „H. R.“ kamen aus Kasachstan. Beide Familien kannten sich von dort und kamen in den 70er Jahren nach Deutschland. Der Kontakt brach „mehr oder weniger“ ab, jedoch hatte „Frau A. (…) immer mal wieder noch lose Kontakt zum Bruder von H. R. (…).”
Dieser Hintergrund war für Bettina F. nicht ermittlungsrelevant: „Also, insofern haben wir da kein Motiv gesehen oder keinen Grund gesehen, ihm da noch weiter auf den Zahn zu fühlen.” Als Entlastend bewertete sie, dass „H. R.“ von sich selbst darüber sprach. Ansonsten hätten die Ermittler nichts über diese Verbindungen gewusst: „Also, wir hätten, ohne dass er davon berichtet hätte, von seiner Zugehörigkeit zum Bundesverfassungsschutz, das ja auch erst mal gar nicht gewusst.” Außerdem, führte Bettina F. aus, kam die Mutter Arnolds und H. R. erst 2011 zusammen.
Es handelt sich hier um eine unglaubliche Aussage von Bettina F.. Die Soko-Ermittlungen gingen ab 2009 in Richtung “Russen-Mafia”. Wusste etwa die Soko nichts über die Hintergründe Arnolds, oder wurde das BKA, welches die NSU-Ermittlungen ab 2011 leitete, nicht informiert? Weitere bis heute ungeklärte Fragen sind, ob Arnold von den Aktivitäten von „H. R.“ und seines Bruders wusste, ob er russisch spricht und vor dem Überfall in Ermittlungen gegen die Russen-Mafia eingebunden war.
Gemäß Arnolds Aussagen im NSU-Prozess, war er „ab September 2007“ im Innendienst. „Sein Studium für den gehobenen Dienst war von 2008 bis 2011, er habe dann zwei Monate gearbeitet und sei dann ein halbes Jahr zuhause gewesen.“28 Er kann sich an den Überfall nicht erinnern. Die Stuttgarter Zeitung berichtete 2013, dass Arnold noch heute die Frage quäle, „was wäre, wenn sein Attentäter noch frei herumlaufe?“29 In seinem Abschlussplädoyer im NSU-Prozess zeigte sich sein Anwalt Walter Martinek überzeugt, dass Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos die Schützen gewesen waren.30
Konkurrenz zwischen Schwestereinheiten BFE 523 und 522
Die Einheitschefs Thomas B. (BFE 523) und Andreas R. (BFE 522) führten ihre Züge als in sich geschlossene, eingeschworene Gemeinschaften. Das Führungspersonal konnte „sich gegenseitig eher nicht leiden (…). Jeder wollte der Beste sein“31, berichteten Alexander H. (BFE 522). Einsätze wurden „völlig getrennt und unabhängig voneinander geführt.“
Wenn es zu Liebesbeziehungen zwischen Mitgliedern der Einheiten gab, führte dies zu Problemen: Als Carolin L. (BFE 522) mit Joachim H. (BFE 523) liiert war, erhielt sie von ihrem Einheitschef Andi R. einen „heftigen „Anschiss”. Er sagte mir, dass ich den falschen Freund hätte, dass man mir ja nicht mehr vertrauen könnte und ich mir dieses Vertrauen erst wieder hart erarbeiten müsste.“ Mit den taktischen Einheiten „bestand keinerlei Konkurrenzkampf, da die sozusagen gar nicht „konkurrenzfähig” waren.“32
Großeinsätze mit „Hundertschaften“
Es gab Einsätze, während derer aus verschiedenen Einheiten und Standorten Polizisten zusammengezogen wurden. Carolin L. wies darauf hin, dass in diesen Hundertschaften auch Bereitschafspolizisten von der Bepo Göppingen, Bruchsal und Lahr beteiligt waren. Dann hätte die Führung der Chef der böblinger Bepo Peter H. gehabt.33 Währenddessen kam es offenbar zu Unstimmigkeiten zwischen der BFE 523 und BFE 522, laut Alexander H. war von einer „gemeinsamen BFE-Hundertschaft (…) anfangs nicht viel zu merken.“
Gemeinsames Training im Fitneßstudio „easy fit“
Am 22. Dezember 2010 erstellte die Soko-Ermittlerin Sabine R. einen Vermerk über ihre Vernehmung des heilbronner Polizisten Tobias S.. Er identifizierte anhand der Lichtbildmappe Zielpersonen aus der Ermittlungsgruppe (EG) Amor. Er konnte sich schwach daran erinnern, dass „die EG Amor irgend etwas mit der Diskothek LUNA zu schaffen hatte.“34 Welcher Zusammenhang besteht, ist unklar.
Bereitschaftspolizisten aus Böblingen und Göppingen waren bei der Razzia der Russen-Disco „Luna“ im Jahr 2005 beteiligt gewesen. Die Hundertschaft wurde vom Chef der Bereitschaftspolizei (Bepo) Peter H. und der BFE 522 geführt.35 Als Zivilbeamtin hatte MK damals die Aufgabe, den außen stehenden Einsatzkräften von Innen den Notausgang zu öffnen. Bei den festgenommenen Türstehern fanden Einsatzkräfte Mitgliedsausweise des Fitneßstudios „easy fit“. Dort trainierten auch 10-15 Mitglieder der BFE 523, organisiert von dem in Eisenach geborenen Ringo L.. Darunter waren etwa Einheitschef Thomas B., Jan J., Timo H., Uwe B., Olaf M., Daniel S., Romy S. sowie Dominik W. und MK. Laut Thomas B. dürften sich seine Polizisten dort über bevorstehende oder vergangene Einsätze unterhalten haben. Warum trainierte die Einheit dort, wenn es in der Kaserne einen Fitneßraum gab? Thomas B. erklärte den Besuch mit dem Aufbau von „Mannschaftsnähe“ und mit den billigen Preisen von 10-20 Euro im Monat, die leider auch Personen aus der Unterwelt angezogen hätten.36 Nach dem Polizistenmord nutzten die Mitglieder das Studio weiter. Romy S. fing erst nach dem Tod Kiesewetters an, richtig im „Easy-Fit“ zu trainieren.37 Polizistinnen wären schon mal von Männern angesprochen worden, auch MK? Ende 2006 schenkte MK ihrer Mutter ihr altes Handy, samt SIM-Karte. Dort rief immer wieder ein „Ausländer“ an. Einmal nahm MK den Anruf im Beisein der Mutter entgegen und hätte auch „nichts verstanden“38. Anlage 1 informiert, dass Thomas B. bereits im Jahr 2003 in einem anderen Fitnaßstudio trainierte, wo er ebenfalls von Kriminellen umgeben war.
Kiesewetter an Kaserne abgepasst und verfolgt?
MK war im Frühjahr 2007 in Pforzheim als zivile Aufklärerin für die Fahndungs- und Ermittlungsgruppe (FEG) „Gold“ eingesetzt gewesen. Die Einsätze richteten sich u. a. gegen die jugoslawische Türsteherszene. Während Razzien wurde MK zum Schein ebenfalls festgenommen. Ihr damaliger Freund Dominik W. bestätigte der Soko-neu, dass sich danach eine bedrohliche Situation ereignete.39 Auch ihrer Schwester Ina schilderte sie den Vorfall: Als MK mit ihrem privaten Auto auf der Autobahn fuhr, wurde sie von einem Kleinbus zum anhalten gedrängt. Nachdem sie auf einem Parkplatz stoppte, stiegen Männer vom Bus aus und wären auf „sie zugelaufen oder hätten sie irgendwie bedrängt. Ich weiß nicht mehr genau wie sie sich aus der Situation rausgerettet hat.“40 Aus der Aussage von Romy S. kann interpretiert werden, dass die Verfolgung auf dem Rückweg von der Kaserne zu ihrer Privatwohnung stattfand.41 Vom Einsatzort in Pforzheim dürfte die Einsatzgruppe gemeinsam zur Kaserne zurückgefahren sein. Von dort kehrten die Polizisten selbst nach Hause zurück. Ihre Autos waren in der Kaserne geparkt.
Die Soko-neu sprach Jochen S. (TEZ 514) über Beschädigungen an privaten Fahrzeugen von Bereitschaftspolizisten an, sowie auf das mögliche Tatmotiv „Rache an der Polizei“42. Er bestätigte, „zweimal einen Platten kurze Zeit hintereinander“ gehabt zu haben. „Was mich dabei gewundert hat, dass dies im Areal der Bepo war. Der Parkbereich ist überwacht, allerdings kam es auch schon vor, dass Unberechtigte unbemerkt dort geparkt haben.“
Ein nächtlicher Zwischenfall mit Kollegen in Thüringen
Auf einem Parkplatz am Ortseingang ihrer Heimatstadt Oberweißbach ereignete sich laut ihrer Freundin Anja Wittig ein „nächtlicher Zwischenfall“. Sie nahm damals an, dass möglicherweise ein Drogendeal stattfand. Der Vorfall hätte MK verstört, sie fürchtete negative dienstliche Konsequenzen:
„Sie war verstört. Ich hatte sie vorher so noch nicht erlebt. Und insbesondere war ungewöhnlich, dass sie nicht sagte, was dort war.“ Michèle Kiesewetter erzählt nur, dass mehrere Autos da gewesen seien und auch Polizei. Sie befürchtet dienstliche Konsequenzen – sagt aber nicht, worum es ging.“43 “Ich hätte anfangs vermutet, dass es vielleicht um einen Drogendeal ging. Aber wie gesagt, ich habe nicht weiter nachgefragt”. Sie empfindet es als äußerst merkwürdig, dass der Vorgang danach nie weiter aufgetaucht ist oder zur Sprache kam. [auch in der Presse hätte offenbar nichts gestanden]. „Ich hatte das auch gegenüber dem BKA erwähnt, aber da hat überhaupt keiner nachgefragt”. Ob Michéle Kiesewetter sich vielleicht noch anderen anvertraut haben könnte? W.: „Sie hatte auch Freunde bei der Polizei, ich weiß auch dass sie mit irgendwem vom LKA Kontakt hatte, ich weiß nicht, wer“.44
Der bw UA sprach den Spitzenermittler des Bundeskriminalamtes (BKA) Axel Kühn45 auf den Vorfall an, seine Antwort: Ihm wäre die Aussage von Anja Wittig „nicht bekannt“: „Nein, dazu weiß ich jetzt nichts.“46 Kurz vor ihrer Vernehmung beim BKA hätte Anja Wittig „von ein paar namenlosen Leuten“ mit Dienstausweisen Besuch bekommen. Sie hätten gewarnt, sie solle sich „mal nicht so sehr erinnern.“47
Neue Artikelserie über heilbronner Polizistenüberfall | http://friedensblick.de/31833/neue-artikelserie-ueber-heilbronner-polizistenueberfall/ |
Einführung | http://friedensblick.de/31840/einfuehrung-der-tiefe-staat-im-mordfall-kiesewetter/ |
Teil 1 | https://friedensblick.de/31849/teil-1-michele-kiesewetter-und-martin-arnold-waren-bei-der-bereitschaftspolizei-boeblingen/ |
Teil 2 | http://friedensblick.de/31864/teil-2-einsaetze-ihrer-beweissicherungs-und-festnahmeeinheit-523-im-tatzeitraum/ |
Teil 3 | http://friedensblick.de/31873/teil-3-die-vorgeschichte-des-polizistenmordes/ |
Teil 4 | http://friedensblick.de/31876/teil-4-der-tatort-theresienwiese-in-heilbronn-umschlagszentrum-des-menschenhandels/ |
Teil 5 | http://friedensblick.de/31884/teil-5-entdeckung-durch-den-radfahrer-peter-s-gegen-1408/ |
Teil 6 | http://friedensblick.de/31889/teil-6-reaktion-der-heilbronner-polizei/ |
Teil 7 | http://friedensblick.de/31899/teil-7-tatrekonstruktion-und-operative-fallanalyse/ |
Teil 8 | http://friedensblick.de/31915/teil-8-welche-einsaetze-fanden-am-tattag-in-heilbronn-und-neckarsulm-statt/ |
Teil 9 | http://friedensblick.de/31923/teil-9-wie-reagierten-die-bereitschaftspolizisten/ |
1Ordner (O.) 6, S. 125, Aussage (A.) am (a.) 03.05.07
2O. 6, S. 235, A. a. 03.08.11
3O. 6, S. 195, A. a. 03.05.07
4Landtag Thüringen, 2. NSU-Untersuchungsausschuss (UA), Abschlussbericht, 01.10.19, S. 1721
5ARD, „Tod einer Polizistin, Das kurze Leben der Michèle Kiesewetter“, 24.04.17, Zeitindex: 05:51
6Thüringer Allgemeine, „Thüringer Polizistin wirft Kollegen Konspiration mit NSU-Helfern vor“, 19.06.14, https://www.thueringer-allgemeine.de/leben/recht-justiz/thueringer-polizistin-wirft-kollegen-konspiration-mit-nsu-helfern-vor-id220182881.html
7O. 6, S. 204, A. a. 04.05.07
8Landtag Thüringen, NSU-UA, 57. Sitzung, 06.03.14, S. 199
9Telepolis, NSU: “Warum kann der Staat einen Polizistenmord nicht aufklären?”, 09.04.19, https://www.heise.de/tp/features/NSU-Warum-kann-der-Staat-einen-Polizistenmord-nicht-aufklaeren-4365425.html?seite=all
10Vgl. O. 10, S. 114, A. a. 26.05.11: „(…) dass Michèle auch für die BFE 522 und die Kripo Heilbronn öfters unterwegs war.“
11Landtag Baden-Württemberg, NSU-UA, 34. Sitzung, 23.11.15, S. 195: „In der Bereitschaftspolizei fangen alle Polizisten an, die jung sind. Das sind alle 19-jährige Männer und Frauen, die viel Sport treiben und die einfach sich auch vergleichen wollen. (…) Und dieser Personenzuschnitt, den wir da gebraucht haben, der war eben so begrenzt, dass wir eben jetzt nicht die 110-Kilo-„Elefanten“ nehmen konnten, sondern wir brauchten zierliche junge Frauen, die da reingehen und da eben unauffällig drin rumschleichen. Und deshalb–So viele junge, hübsche Frauen hatten wir eben nicht in diesen Einheiten.“
12O. 9, „Einsätze aus besonderen Anlass“, S. 117, 15.05.07
13O. 11, S. 90, A. a. 25.11.10
14O. 10, S. 99, A. a. 25.04.07
15Landtag Baden-Württemberg, NSU-UA, 30. Sitzung, 19.10.15, S. 110
16O. 6, S. 322, A. a. 04.05.07
17Vgl. Landtag Thüringen, NSP-UA, 56. Sitzung, 10.02.14, S. 199
18Vgl. O. 10, S. 327, Aussage von Danyel K. (TEZ-514): „Ich erinnere mich noch an die Beerdigung von Michèle in Sömmerda, da hatte ich auch so ein komisches Gefühl, dass gleich was passiert. Und die anderen Kollegen auch. Ich habe dort keinen Kollegen gesehen der keine Schutzweste getragen hat, der in Zivil war.“
19ARD, „Tod einer Polizistin, Das kurze Leben der Michèle Kiesewetter“, 24.04.17
20O. 6, S. 191, A. a. 26.01.11
21WDR, Neugier genügt, “Der ungeklärte Polizistenmord”, 25.04.2017, https://www.podcast.de/episode/323110346/Der+ungekl%C3%A4rte+Polizistenmord/
22“Ich habe hier auch bei der Frau Kiesewetter gedacht, ich fahre mal nach Heilbronn, wenn der Täter ermittelt wird, und vertrete dort in Heilbronn die Interessen der Frau Kiesewetter. Ich habe da auch damals 2007 nie geahnt, was sich daraus entwickeln wird. Das weiß man doch oft vorher nicht.”
23Vgl. O. 2, S. 205, Zwischenbericht vom 22.12.08
24O. 11, S. 110, A. a. 13.10.10: „Auf dem G8-Gipfel war ich nicht mit Kollege Arnold in derselben Hundertschaft eingesetzt. Kollege Arnold war bei der BFE-Hundertschaft.“
25O. 10, S. 145, A. a. 06.10.10: „Frage: Gab es Einsätze mit Martin Arnold? Antwort: Nein.“
26O. 8, S. 199, A. a. 11.05.11
27Landtag Baden-Württemberg, NSU-UA, 36. Sitzung, 30.11.15, S. 77
28NSU-watch, 75. Verhandlungstag, 16.01.14: https://www.nsu-watch.info/2014/01/protokoll-75-verhandlungstag-16-1-2014/
29Stuttgarter Zeitung, „Vermutlich mehr als zwei Täter für den Polizistenmord verantwortlich“, 29.08.13, https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.nsu-mordattentat-von-heilbronn-was-kann-der-letzte-zeuge-beitragen-page1.449d2e78-f403-4454-9a37-323012f5a2d2.html
30Annette Ramelsberger (…), „Der NSU-Prozess. Das Protokoll, Band 2“, 2019, S. 1626, Plädoyer vom 13.12.17: “An der Täterschaft von Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos kann aufgrund der objektiv vorhandenen Beweise und Indizien keinerlei Zweifel bestehen – unabhängig von der Frage, ob es weitere Beteiligte vor Ort gab oder nicht.”
31O. 10, S. 250, A. von Alexander H. (BFE 522) am 14.10.10
32O. 10, S. 427, A. v. Carolin L. (BFE 522) am 24.11.10
33O. 10, S. 427, A. a. 24.11.10
34O. 11, S. 432, Vermerk vom 22.12.10. In Ordner 50, Spurencontrolling vom 04.05.11, werden folgende „überprüfte Personen“ der Ermittlungsgruppe (EG) Amor aufgezählt: Johann V., Alexander W., Waldemar G. und Denis B.
35O. 10, S. 427, A. von Carolin L. (BFE 522) a. 24.11.10
36Vgl. O. 9, S. 407, A. a. 04.05.07: „Die Mitgliedschaft ist sehr billig, was als Konsequenz nach sich zieht, dass auch Personen dort verkehren, die zur Polizei nicht das beste Verhältnis haben.”
37O. 11, S. 479, A. a. 30.06.11: „Es gab auch noch das Fitness Studio „Easy Fit”, in dem ich auch trainiert habe, aber erst nach der Tat in Heilbronn.“
38O. 6, S. 188, A. a. 21.10.10
39O. 12, S. 82, A. a. 30.06.11
40O. 6, S. 238, A. a. 03.08.11
41O. 11, S. 478, A. a. 30.06.11: „Sie war wohl auf dem Weg in Richtung Nufringen und wusste nicht was sie nun tun solle.”
42O. 11, S. 359, A. a. 12.10.10
43ARD, „Tod einer Polizistin, Das kurze Leben der Michèle Kiesewetter“, 24.04.17
44„Haskala“, privates Protokoll der thüringer linken Abgeordneten Katharina König von Sitzung des UA, 10.03.14
45Unter anderen leitete Axel Kühn nach dem 04. November 2011 die NSU-Ermittlungen des BKA. Er war Mitglied der besonderen Aufbauorganisation „Trio“, Leiter des Lagezentrums und stellvertretender Chef des Führungsstabes.
46Landtag Baden-Württemberg, NSU-UA, 29. Sitzung, 16.10.15, S. 40
47Landtag Thüringen, NSU-UA, 58. Sitzung, 10.03.14, S. 23
Ein Gedanke zu „Teil 1. Michèle Kiesewetter und Martin Arnold waren bei der Bereitschaftspolizei Böblingen“