Ich vermutete in einem früheren Artikel, dass der (damalige) hessische Geheimdienst-Beamte Andreas Temme “reingelegt” worden sein könnte. Betraten die Mörder das kasseler Internetcafe und erschossen den Betreiber Halit Yozgat just in dem Moment, als Temme mit seinem Auto wegfuhr?
Nach meiner Einschätzung hätte der Iraker Hamadi Sh. die ideale Beobachterposition gehabt, das Opfer auszuspähen und den passenden Moment zum Angriff per Telefongespräch mitzuteilen. Er telefonierte nur 3-4 Meter neben Yozgat, als er erschossen wurde. Just in dem Moment als Temme das Cafe verließ, startete sein zweiter Anruf.
Wurde Temme beschattet?
Benjamin Gärtner war einer der Informanten Temmes. Sie trafen sich einige Tage nach der Ermordung Yozgats. Gärtner schildert seinen Eindruck:
“Mir fällt jetzt noch ein, dass der Alex [Aliasname Temmes] bei diesem Treffen besonders nervös war, weil er sonst sein Jackett auszog und über den Stuhl hängte. Bei diesem Treffen hat er das nicht gemacht. … Außerdem hat er sich dauernd umgeschaut. Für mich hatte das den Eindruck, dass er sich beobachtet fühlte.” (Bundestag, erster NSU-Untersuchungsausschuss, Protokoll 27, S. 43)
Wurde Temme von Hamadi Sh. beschattet?
Um 16:50 betrat Temme das Cafe und begab sich in den hinteren Bereich an einen Computer. Vier Minuten später, um 16:54, startete Hamadi Sh. vorne, direkt neben der Theke, sein erstes Gespräch. Er beendete es just um 17:01, als Temme das Cafe verließ. Daraufhin fing Hamadi Sh. sein zweites Gespräch an.
In den Anlagen des zweiten NSU-Bundestags-Untersuchungsausschusses fand ich Material, welches ausgerechnet Hamadi Sh. weiter ins Zwielicht rückt – er informierte nachweislich die Ermittler falsch!
Zwei im Cafe im hinteren Bereich sitzende Zeugen hörten verdächtige Geräusche, aber erst nachdem Temme seinen Computer um 17:01 verließ. Zum Beispiel hörte eine Person ein “dumpfes Geräusch”, aber erst “2-3 Minuten” nachdem Temme seinen Platz verließ.
Ausgerechnet Hamadi Sh. will Schüsse kurz vor 16:54 gehört haben, als Temme noch im Internetcafe anwesend war. In einem Bericht der Staatsanwaltschaft Kassel steht, dass Hamadi Sh. …
“… unmittelbar zu Beginn seines Telefonates (um 16.54 Uhr) Knallgeräusche wahrgenommen habe. Kurz danach habe vermutlich eine Person das Internet Cafe verlassen.” (Anlage 40, S. 11)
Seine Darstellung ist falsch, denn zu Beginn des ersten Gespräches war Yozgat noch am Computer aktiv.
“Bezüglich dieser Zeitangabe ist aber festzustellen, dass 50 Sekunden nach Beginn des ersten Telefonats von [geschwärzt], d.h. um 16.54.51 Uhr noch eine Action am PC des Getöteten (Aufruf einer Internetseite) erfolgte.” (Anlage 58, S. 5)
Außerdem gibt es eine Zeugin, die Yozgat um 16:57 lebendig hinter dem Schreibtisch sitzen gesehen hat:
“Im Nachhinein konnte noch die Zeugin [geschwärzt] ermittelt werden. Sie (…) führte anschließend von ihrem Handy aus mehrere Telefonate. Eines dieser Telefonate führte sie in Höhe vom Internet Cafe. Sie wollte das Cafe betreten, um eine Telefonkarte zu kaufen, unterließ dies aber, weil das zu “schmuddelig” auf sie wirkte. Durch die Schaufensterscheibe konnte sie einen Mann hinter dem Schreibtisch sitzen sehen. (…) Feststellungen ergaben, dass das besagte Telefonat der [geschwärzt] um 16.57 Uhr geführt wurde.” (Anlage 40, S. 7)
Die Falschauskunft könnte dazu gedient haben, eine genaue Rekonstruktion der Tat zu vereiteln. Tatsächlich nahm die Sonderkommission einzig aufgrund der Aussage von Hamadi Sh. an, dass der Mord auch schon um 16:54 sich ereignet haben könnte. Des Weiteren nahm sie an, dass der Mörder nur ein kleines Zeitfenster von 40 Sekunden gehabt hätte, um nach 17:01 Yozgat unbemerkt zu erschießen. Hamadi Sh. sagte nämlich aus, dass er nach Beendigung seines zweiten Telefongespräches um 17:03:26 die Telefonkabine verließ und keine verdächtigen Beobachtungen machte. Er hätte Halit Yozgat vergebens bis zum Eintreffen dessen Vaters um 17:05 gesucht.
Warum ging Temme ins Internetcafe?
Temme stempelte sich gegen 16:45 von seiner Arbeitsstelle beim Amt für “Verfassungsschutz” aus und sass seltsamerweise schon ein paar Minuten später im Internetcafe hinter einem Computer.
„Ich habe mich gegen 16:45 Uhr [im Büro] ausgestempelt. Um 16:50 Uhr hab ich mich [am PC im Internetcafe] eingeloggt und um 17:00 Uhr wieder ausgeloggt.“ (Zeugenaussage Temmes im NSU-Prozess, Wortprotokoll von Jürgen Pohl)
Nach Temmes Darstellung hätte er sich dort aus privaten Gründen aufgehalten, um mit einer Frau im Internet zu flirten.
… oder um Halit Yozgat zu ermorden?
Dies ist abwegig, denn Temmes Verhalten wäre sehr unvorsichtig gewesen. Er wäre mit der Waffe ins Cafe gegangen und hätte dort mit ihr erstmal 11 Minuten verbracht. Er war jedoch im Internetcafe seit Jahren persönlich bekannt und hätte daher damit rechnen müssen, gesehen und erkannt zu werden! Dann surfte er laut der polizeilichen Auswertung im Internet auf der Flirtseite „iLove.de“, wo er mit seiner Handynummer registriert war. Auf diese Weise konnte er von der Polizei auch aufgespürt werden.
Wer könnte Temme in die Falle gelockt haben?
Die Mörder hätten im Vorfeld wissen müssen, dass Temme ins Cafe fahren würde. Es ist unbekannt, ob er seinen Besuch jemand im Vorfeld mitteilte. Er chattete jedoch im Flirtportal laut Polizeiauswertung ab 16:50 mit der bis heute unbekannten „TanyMany”, für die sich seltsamerweise niemand interessiert. Dabei wäre sie eine wichtige Zeugin, da sie sich offenbar mit Temme verabredete. Die weitere Frage ist, warum die beiden schon nach 11 Minuten ihren Austausch wieder beendeten.
Die Bundestagsabgeordneten des zweiten NSU-Untersuchungsausschusses ignorierten die Möglichkeit, dass Temme in eine Falle gegangen ist. Es ist davon auszugehen, dass auch der hessische NSU-Ausschuss dementsprechend ungenügend untersuchte und den Sachverhalt nicht beleuchtete oder gar aufklärte.