von Gabriele Muthesius
Das nach fünfjähriger Dauer am 11. Juli 2018 im Münchner NSU-Prozess ergangene Urteil lautete lebenslänglich für die Hauptangeklagte Beate Zschäpe – überdies wurde besondere Schwere der Schuld festgestellt – sowie auf Haftstrafen von zweieinhalb bis zehn Jahren für ihre vier Mitangeklagten.
Die am 21. April 2020 – 650 Tage später und nur 36 Stunden, bevor das Verfahren wegen Fristüberschreitung hätte neu eröffnet werden müssen – vom Vorsitzenden Richter des 6. Strafsenats des Münchner Oberlandesgerichts, Manfred Götzl, und seinen beisitzenden Kollegen präsentierte, 3025 Seiten umfassende Urteilsbegründung, die der Autorin seit kurzem vorliegt, darf durchaus als Bestätigung der zentralen Kritikpunkte interpretiert werden, die im Hinblick auf den Prozess, das Urteil sowie die mangelhafte behördliche Aufklärung des gesamten NSU-Komplexes von der Verteidigung, den Opferfamilien (Nebenklägern) und in den Medien vielfach geltend gemacht worden sind. (Einiges davon hatte ich in einem Blättchen-Beitrag unmittelbar nach der Urteilsverkündung zusammengetragen.)
So liefert das Urteil zu allen dem NSU-Trio Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe zur Last gelegten Verbrechen – zehn Morde, zwei Sprengstoffattentate und 15 Raubüberfälle – so minutiöse Tatvorbeitungs- und -hergangsdarstellungen, als wären die Richter quasi unmittelbare Beobachter der Vorgänge gewesen. So heißt es etwa zur „Tat zulasten von Enver Şimşek in Nürnberg am 09. September 2000“ (sogenannter erster NSUMord): „Am 09. September 2000 kurz vor 13:00 Uhr stand das Opfer auf der Ladefläche seines Transporters, den er hinter seinem mobilen Blumenverkaufsstand in der Liegnitzer Straße geparkt hatte. Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt traten an die geöffnete Schiebetür an
der Beifahrerseite des Transporters heran, um Enver Şimşek zu töten. […] Entsprechend dem gemeinsamen Tatplan gab Uwe Böhnhardt oder Uwe Mundlos […] sofort und für das Opfer vollkommen unerwartet mit der Pistole Ceska 83 Kaliber 7,65 mm mit der Waffennummer 034678 […] vier Schüsse auf Kopf und Körperzentrum des Geschädigten ab, um diesen zu töten. […] Der andere der beiden Männer gab mit der Pistole Bruni Modell 315 Kaliber 6,35 mm mit der Waffennummer 012289 mindestens einen Schuss in Richtung des Kopfes des Geschädigten ab.“ ( Zur Gesamtdarstellung dieser Tat in der Urteilsbegründung hier klicken) Und zum „Anschlag in der Probsteigasse in Köln im Dezember 2000/Januar 2001“ (Sprengstoffattentat) heißt es: „Nach ihrem gemeinsamen Plan hatten Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt […] die Aufgabe, vor Ort in Köln tätig zu werden. […] Einer von beiden betrat, während der andere vor dem Laden wartete, am späten Nachmittag mit einem Weidenkorb, in dem sich der Sprengsatz, versteckt in einer metallenen Christstollendose befand, den Laden
und traf dort auf den Ladeninhaber […]. Um einen Einkauf vorzutäuschen, sammelte er einige Lebensmittel in dem Laden ein und legte diese in den Weidenkorb zu der roten, weihnachtlich mit Sternen verzierten Christstollendose mit der Sprengvorrichtung. […] Unter dem Vorwand, sein vergessenes Portemonnaie aus der nahegelegenen Wohnung holen und umgehend zurückkehren zu wollen, stellte der Täter den Korb […] an der Kasse des Ladengeschäfts ab […] und begab sich zu seinem wartenden Mittäter.“ (Zur Gesamtdarstellung dieser Tat in der Urteilsbegründung hier klicken.) Und so weiter und so fort.
Gedeckt durch die Beweisaufnahmen im Prozess selbst sind diese Darstellungen in ihrem Kernpunkt, dem Tatvorwurf gegenüber Mundlos und Böhnhardt, hingegen in keinem einzigen Fall. Denn für alle 27 mutmaßlichen NSU-Tatorte konnten die Ermittler (Bundeskriminalamt) keine forensischen Nachweise (Fingerabdrücke, DNA) für die physische Anwesenheit von Mundlos und Böhnhardt zu den Tatzeitpunkten erbringen und die Anklagebehörde (Bundesanwaltschaft) vulgo im Prozess auch nicht vorlegen. Dasselbe gilt für Zeugenaussagen und erstellte Phantombilder. Eine in der deutschen Kriminalgeschichte singuläre Serie (siehe ausführlich Blättchen-Ausgabe 10/2017).
Dass Richter Götzl auf ein stenografisches Protokoll der Hauptverhandlung ebenso verzichtete wie auf eine Bandaufzeichnung der 438 Verhandlungstage ist zwar, so Annette
Ramelsberger von der Süddeutschen Zeitung (SZ), eine „Praxis aus der Zeit, als die Strafprozessordnung entstand: Das war 1877“, aber so ist leider nicht „offiziell“ feststellbar, wie oft in diesem Prozess der Begriff „Verfassungsschutz“ zur Sprache kam. „[…] tausendfach“, meint jedenfalls Tom Sundermann (DIE ZEIT) mit Verweis auf die zahlreichen „Gelegenheiten, bei denen Sicherheitsbehörden und Ermittler gepatzt haben“ und „Situationen, in denen die drei untergetauchten Rechtsextremisten mutmaßlich rechtzeitig hätten gefasst werden können“. Weitgehend protokolliert haben die Verhandlungen dagegen die Prozessbeobachter der SZ; die vier Bände mit zusammen 1860 Seiten samt einem zusätzlichen Materialband wurden im Jahre 2018 publiziert. Darinnen immerhin um die 90 Verhandlungstage mit direkten Bezügen zum Verfassungsschutz – inklusive des Sachverhalts, dass sich am Tatort des 6. Juni 2006 in Kassel, wo Halit Yozgat in seinem Internetcafé ermordet wurde, zum Tatzeitpunkt mit Andreas Temme ein Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes aufgehalten hat. Temme selbst war im Münchner Prozess mehrfach vernommen worden. Doch in der voluminösen Urteilsbegründung von Götzl und Kollegen kommen der Begriff „Verfassungsschutz“ und der Name Temme überhaupt nicht vor. Es dürften nicht zuletzt Ungereimtheiten wie diese sein, die Nebenkläger wie deren Anwälte
erneut zu teils geharnischter Kritik am gesamten Prozess veranlasst haben. Die Urteilsbegründung hätte Ergebnisse des Verfahrens „bis zur Unkenntlichkeit verkürzt oder dreist verschwiegen“ und gezeigt, dass die Richter „kein Interesse an einer Aufklärung hatten“. Nach deutscher Rechtspraxis steht der Nebenklage im Falle einer Täterverurteilung allerdings kein Recht auf Revision zu.
Revision eingelegt hat indes die Bundesanwaltschaft und zwar gegen das aus deren Sicht mit bloß zweieinhalb Jahren zu niedrige Urteil gegen Zschäpes Mitangeklagten André Eminger, das Neonazis am 11. Juli 2018 im Gerichtssaal mit Johlen begrüßt hatten. Götzl und Kollegen hatten Eminger in vier von fünf Anklagepunkten freigesprochen und aus dem Gerichtssaal auf freien Fuß gesetzt – jenen Mann, der 13 Jahre lang Vertrauter von Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt gewesen war. Der hatte dem Trio unter seinem Namen eine Wohnung angemietet, hatte Einkäufe erledigt, den beiden Uwes auch mal seine Krankenkassenkarte zur Verfügung gestellte, ihnen dreimal zu einem (angemieteten) Wohnmobil verholfen und vieles andere mehr. Daher erläuterte Oberstaatsanwalt Jochen Weingarten von der Bundesanwaltschaft, die gegen Eminger zwölf Jahre beantragt hatte: Es sei nicht glaubhaft, dass Eminger die ganze Zeit lang quasi nur neben dem NSU-Trio „hergetrottet“ sei, ohne Fragen zu stellen. Etwa: „Wovon lebt ihr eigentlich, warum im Untergrund, und was macht ihr eigentlich den ganzen Tag lang?“ Doch genau so sah es offenbar der Götzl-Senat und attestierte jetzt: „Eine derartige lockere persönliche Beziehung in Zusammenschau mit ihrer ideologischen
Verbundenheit eröffneten (sic! – G.M.) für den Angeklagten Eminger jedoch keine tiefgehenden Einblicke in die Lebensumstände der drei untergetauchten Personen.“ Und daraus schloss „der Senat, dass der Angeklagte Eminger bei lebensnaher Betrachtung davon
ausgegangen ist, die drei würden ihren Lebensunterhalt aus grundsätzlich erlaubten und nicht schwerstkriminellen Quellen bestreiten“.
Das abenteuerlichste Konstrukt freilich komponierten Götzl und Kollegen mit Ihrer Begründung der unmittelbaren Beteiligung von Zschäpe an den Mundlos und Böhnhardt zugeschriebenen Verbrechen und damit zum Nachweis ihrer direkten Mittäterschaft sowie des verhängten Urteils lebenslänglich, mit besonderer Schwere der Schuld – und zwar mit der ebenso feinsinnigen wie sophistischen Anschuldigung, dass gerade Zschäpes offenkundige
Abwesenheit von allen Tatorten den Kern ihrer Mittäterschaft bilde. Oder in bestem Juristendeutsch: „Gemäß dem gemeinsam gefassten Tatkonzept und der gemeinsam durchgeführten konkreten Tatplanung wäre die Anwesenheit der Angeklagten Zschäpe am Tatort und die Begehung einer tatbestandsverwirklichenden Ausführungshandlung dort durch sie planwidrig gewesen. Vielmehr waren nach diesem Konzept gerade ihre Abwesenheit vom Tatort im engeren Sinne und ihr Aufenthalt in oder im Nahbereich der jeweiligen Wohnung geradezu Bedingung dafür, dass die jeweiligen Taten überhaupt begangen werden konnten. Denn nur durch die örtliche Aufteilung der Angeklagten Zschäpe einerseits sowie Uwe
Mundlos’ und Uwe Böhnhardts andererseits war gesichert, dass die von allen drei Personen gewollte Legendierung der Wohnung erfolgt und dass der festgestellte ideologische Zweck der Gewalttaten letztendlich erreicht werden würde. Da die Schaffung eines sicheren Rückzugsraums und die Erreichung des ideologischen Zwecks der Tatserie bei der Angeklagten Zschäpe als auch bei den beiden Männern Bedingung für die Begehung einer Tat war, hatte die Angeklagte Zschäpe durch das Erbringen ihres Tatbeitrags bestimmenden Einfluss auf das ‚Ob‘ der Taten, also ob sie überhaupt begangen wurden.“ Auf vergleichbare Weise begründete der Senat auch Zschäpes direkten Einfluss auf das „Wo“, „Wann“ und
„Wie“ der Tatausführungen.
Dass eine solche Interpretation der juristischen Tatbestände der Mittäterschaft und der Beihilfehandlung höchstrichterlicher Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (BGH) seiner Auffassung nach eklatant widerspreche, hat Zschäpe-Anwalt Mattias Grasel bereits in seinem Schlussvortrag während des Prozesses ausgeführt und begründet. Revision gegen das Urteil eingelegt haben neben Grasel auch Zschäpes ursprüngliche Pflichtverteidiger Anja Sturm und Wolfgang Heer mit einen Schriftsatz sowie Wolfgang Stahl mit einem eigenen gesonderten.
Schnell weitergehen wird es deswegen nun aber nicht. Mit einer Entscheidung des BGH über Annahme oder Ablehnung der Revisionen rechnen Experten erst in ungefähr zwei Jahren. Erst dann wird man wissen, ob der NSU-Prozess neu aufgerollt werden muss.
Ursprünglich erschienen am 20. Juli 2020 in Das Blättchen 15/2020
Es handelt sich um einen Staatsschutzprozess, welcher sein strategisches Ziel bereits im Namen trägt. Es ist also nicht abwegig zu schlussfolgern, dass die Entscheidung des Revisionsgerichts ebenfalls den Schutz des Staates berücksichtigen wird.
Bereits die Entscheidung des BVerfG in dieser Sache wirkte in Richtung Staatsschutz:
https://friedensblick.de/wp-content/uploads/2019/12/2-BvR-2171-19-nicht-zur-Entscheidung-angenommen.pdf
Verfassungsfeindliche Sabotageakte sind “kalte” Putschversuche im Vorfeld des Hochverrats. Dass das BVerfG hier keinen Prüfvorgang eingeleitet hat, spricht Bände. Ersetzt man in der vorstehenden Entscheidung „verfassungsfeindliche Sabotageakte“ durch „Hochverrat“, dann wird die Problematik noch deutlicher. Wer soll bei begründetem Verdacht auf solche Delikte denn sofort und rechtsstaatlich eingreifen können, außer dem BVerfG? Bundesverfassungsgericht und verfassungsfeindlicher Sabotageakt begründen bereits vom Wortlaut her wechselseitige Zuständigkeiten.
Auch kann ich mir nur schwer vorstellen, dass der Prozess neu aufgerollt werden könnte, ohne die Erkenntnisse aus den (Mord)Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaften Erfurt und Meiningen zu berücksichtigen, selbst wenn diese eingestellt werden sollten. Auch dies würde aber dem Grundanliegen des Staatsschutzes widersprechen.
Gleichzeitig würde bei einer Neuauflage des Strafprozesses zwangsläufig die Thematik weiterer, bisher unbekannter NSU-Mitglieder auf die Agenda kommen. Das BKA hatte ja denselben Gedankengang wie ich, nur ist dieser wahrscheinlich aus Gründen des Staatsschutzes nicht in die Beweisaufnahme des Tatgerichts der 1. Instanz eingeflossen. Man beachte die dogmatische Stellungsnahme der Staatsanwaltschaft Karlsruhe, ohne auch nur mit einem Wort inhaltlich auf das von mir Vorgebrachte einzugehen, Zitat:
„Ich weise ausdrücklich darauf hin, dass dieses Schreiben nicht in der Weise zu verstehen ist, dass bei der Staatsanwaltschaft Karlsruhe von der Existenz weiterer Mitglieder des NSU ausgegangen wird. Die Staatsanwaltschaft Karlsruhe stimmt auch keinen in den Unterlagen behaupteten Tatsachen zu. Das gilt auch für Behauptungen, denen in den Bescheiden der Staatsanwaltschaft Karlsruhe nicht ausdrücklich widersprochen wird“ Zitat Ende
http://friedensblick.de/29310/unbekanntes-nsu-mitglied-bis-heute-auf-freiem-fuss-kann-schon-sein-aber-wir-haben-davon-nichts-gewusst/
Ehrlich gesagt kann ich mir nur schwer vorstellen, dass der NSU-Prozess auf diese Weise neu aufgerollt werden könnte. Ein solches Verfahren wäre wahrscheinlich mit Staatsschutz unvereinbar. Vielmehr wäre zu befürchten, dass ein solcher Strafprozess den Staat zerreißen würde.
Der verlinkte Urteils-Auszug zum Şimşek-Mord ist sehr aufschlussreich:
Aufgrund angeblicher Trio-Absprache sollten die Uwes „das Opfer erschießen, während die Angeklagte Zschäpe zusagte, die Abwesenheitszeiten Uwe Böhnhardts und Uwe Mundlos’ im Zusammenhang mit der Tatausführung zu legendieren“, indem sie brav die gemeinsame Wohnung hütet und „aktiv bei Nachfragen, jeweils der Situation angepasst, eine unverfängliche Erklärung für deren Abwesenheit“ liefert.
Auf deutsch: Sie sei wild entschlossen gewesen, den Uwes ein Alibi zu geben – wenn es denn nur jemanden gegeben hätte, der nach einem solchen Alibi fragte. Diesen jemand gab es aber nicht und auch nicht einen Zeugen oder ein Tonband, der die angebliche Trio-Absprache bezeugen kann.
Zschäpes „Eingeständnis“ 2015 im Münchener Prozess, zumindest im Nachhinein zeitnah von den Uwes deren jeweils neueste Mordtat erfahren zu haben, ist zwar aus verschiedenen Gründen (insbesondere Zeitpunkt, Zweck und „Zulieferer“) dubios, kann aber nicht ohne weiteres zur Schutzbehauptung umgedeutet werden, sie wolle eben nur ablenken von ihrem Voraus-Wissen um die Morde.
Denn hätte sie stattdessen einfach gesagt (bzw. verlesen lassen), sie habe von sämtlichen Morden der Uwes erst kurz vor dem 04.11.2011 erfahren – wer wollte ihr anhand welcher Belege oder Zeugen Gegenteiliges nachweisen?
Wer ihr das Motiv einer (rein eigennützigen) Schutzbehauptung unterstellen will, soll erst mal erklären, warum sie sich dann ausgerechnet für die schlechtere von zwei möglichen Schutzbehauptungen entschieden haben soll.
Man kann lange rätseln, warum trotz wochenlangem Vorlauf und Schriftform, sozusagen trotz mehrfacher Filterung mithilfe ihrer (neuen) Anwälte, 2015 ein so merkwürdiges „Geständnis“ herausgekommen war – war es doch keinerlei prozesstaktischen Erklärungsnot geschuldet und taugte weder dazu, Kooperationsbereitschaft zu signalisieren noch so etwas wie strafmildernde Reue glaubhaft zu machen.
Die Anklage befand sich aber in größter Beweisnot (Tatortspuren etc.) und hatte eine „Zeugin“ wie Zschäpe bitter nötig, um ihr Die-Uwes-waren-Räuber-und-Mörder-Narrativ weiter aufrecht erhalten zu können. Weil Zschäpe mit ihrer Stellungnahme sich selber überhaupt keinen Gefallen tat, der Anklage hingegen einen sehr großen, steht der Verdacht eines geheimen Deals hinter den Kulissen immer noch im Raum.
Den mutmaßlichen Deal bzw. die „Fakten-Wunschliste“ hatte Zschäpe dabei so anklage-konform abgearbeitet („Die Miete zahlte meistens ich“), dass sie sogar entlastenden Fakten der Beweisaufnahme widersprach (2014 hatte Strohmann Matthias Dienelt berichtet, dass er die bar gezahlte Miete, die er für das Trio jahrelang weiterleitete, immer von Mundlos erhielt, nie von Zschäpe). War das eine Abstimmungs-Panne in der Regie zwischen Anklage oder Verteidigung?
Oder hatte Dienelt eine (falsche, aber unwiderlegbare und daher von Zschäpe eigentlich nutzbare) Gefälligkeits-Aussage geliefert, an die sich anderthalb Jahre später niemand mehr (nicht mal Zschäpe) erinnerte? Das wäre dann doch ein weiteres Anzeichen, dass die sich (unnötig) selbst belastende Zschäpe im Grunde eine ehrliche Haut ist, wodurch auch weitere Angaben ihrerseits nicht ohne weiteres weggewischt werden können – insbesondere eben die Angabe, die Morde nicht gebilligt und von keinem im voraus gewusst zu haben.
Damit wären wir wieder in Götzls Fantasialand: Zehn Morde sind zwar viel, aber nicht, wenn sie sich auf ein Jahrzehnt verteilen und dabei teilweise häufen mit langen Pausen dazwischen. Denn weil die Uwe „häufig und lange“ abwesend waren (laut Prozess-Zeugen, die das selber sahen und von Zschäpe vorgejammert bekamen), war das „Legendieren“ ein Dauerzustand – egal, mit welcher (mal evtl. mörderischen, oft aber viel harmloseren) Agenda die Uwes gerade unterwegs waren.
Zudem befand sich das Trio schon wegen alter Taten im Untergrund – für einen Legendierungs-Wunsch bedurfte es also (zumindest in der Anfangszeit der vermeintlichen NSU-Morde) gar keiner neuen Taten als Ursache.
Und nicht zuletzt stellt sich nicht nur bei verschleierungsbedürftigen Untergrundlern (aber bei diesen ganz besonders) die Frage, ob denn eher die Abwesenheit der Uwes „legendiert“ werden sollte oder eher die Anwesenheit?
Es hatte wohl etliche Nachbarn gegeben, die in den Uwes keine „Heimkehrer“ sahen, sondern „Besucher“ und die die nicht berufstätige, aber auch nicht prekär wirtschaftende Zschäpe daher für eine Prostituierte hielten.
Wer ein derartiges Überschießen der Gerüchteküche zulässt, gibt sich beim „Legendieren“ keine allzu große Mühe – oder will vielleicht gar nicht legendieren?
Dem offiziellen Narrativ folgend, müssten die drei Untergetauchten also von Anfang an reichlich Verschleierungs- bzw. Legendierungs-Bedarf gehabt haben, ohne dass es auf neue Taten ankam.
Und sie haben ja auch eindeutig ihren Aufenthalt und ihre Identität verschleiert, z.B. durch Benutzung von Falschnamen.
Jedoch scheint das eindeutige Tarnungsverhalten, das sie ihren Nachbarn gegenüber an den Tag legten, ausgerechnet beim wichtigsten Adressaten nicht notwendig gewesen zu sein: beim Staat und seinen Ermittlungsbehörden.
Wurde schon kurz nach dem (mutmaßlich „betreuten“) Abtauchen des Trios eine Gruppe von Sonderermittlern kurz vorm anstehenden Zugriff durch Befehl von oben zurückgepfiffen, so wurde einige Jahre später (2003) ein LKA-Ermittler, der seinen ehemaligen Schulkameraden Böhnhardt gesichtet hatte, vom LKA-(Vize-)Präsident Jakstat persönlich zu reinen Scheinermittlungen angehalten:
„Es wurde explizit gesagt: Kriegen Sie da nichts raus“,
https://www.mdr.de/thueringen/zwickauer-trio812.html
Jakstat wehrte sich zwar 2014 mit einer Anzeige gegen Unbekannt wegen übler Nachrede, aber das beeindruckte nicht mal den staatsnahen MDR, denn LKA-Abteilungsleiter Marko Grosa hatte kurz zuvor die Darstellung des Informanten vor dem NSU-Untersuchungsausschuss bestätigt.
Das Trio bewegte sich also noch bis mindestens 2003 (drei Jahre nach dem Şimşek-Mord) unter einer „schützenden Hand“. Nur weil die drei das ganz genau wussten und darauf vertrauten, konnten sie so ganz entspannt bleiben, wie sie tatsächlich wohl auch geblieben sind.
Hätten die drei ihre staatlichen Beschützer hintergangen und ohne deren Wissen gemordet, hätten sie noch viel vorsichtiger sein müssen als „normale Untergrundler“, die der Staat naturgemäß ja nicht auf dem (Schutz-)Schirm haben kann wie eben das vermutlich ziemlich nahtlos „staatlich betreute“ BMZ-Trio. Mit Götzls bloßem Legendieren durch ein Heimchen am Herd wäre es längst nicht getan gewesen.
Böhnhardt und Zschäpe sind doch laut Akten im Frühjahr 2005 in Chemnitz festgenommen worden. Die im Polizeisystem von Böhnhardt gespeicherten Fingerabdrücke stimmten nicht mit den vor Ort in Chemnitz abgenommenen überein. Die schützende Hand hielt also bis mind. Frühjahr 2005. Wichtig wäre es, noch einmal die Vita der Opfer zu prüfen. Könnte es sein, dass einige NSU-Opfer über Wissen verfügten, dass nicht an die Öffentlichkeit gelangen durfte? Denkbar wäre, dass das Kasseler Opfer von den Ermittlungen gegen die Hinterhofmoschee hinter dem Internetcafe Kenntnis hatte. ………..
Vieles ist möglich, aber nicht alles zugleich.
Nach meinem Dafürhalten waren die Uwes an keinem der sog. NSU-Morde beteiligt, denn der Staat hatte 2005 mit der dubiosen „Entdeckung“ der Ceska-Spur (Waffe aus einer Miniserie, die zu mindestens der Hälfte im Besitz der deutschen „Dienste“ war) den Verdacht nicht mit letzter Gewissheit, aber sehr publikumswirksam und eigentlich völlig ohne Not auf sich selbst gelenkt. Er hätte es nämlich einfach bei der Deutung der Döner-Morde als Döner-Morde belassen können (d.h. türkische-kurdische OK-Morde mit namentlich nicht bekannten Tätern) – was sie vermutlich auch tatsächlich waren. Für wirklich Brisantes (=also Infos, die man nicht selber kokett durchsticht, sondern eisern unter Verschluss halten will) hat man ja bekanntlich ganz schnell 120-jährige Aktensperren zur Hand.
Die Uwes standen 2005 nicht im geringsten unter Verdacht, eine Show ihretwillen war also überhaupt nicht nötig.
Dennoch hat der Staat seine Schlapphüte 2005 einem ganz allgemeinen Verdacht ausgesetzt und diesen Verdacht 2006 auf den Schlapphut Andreas hin konkretisiert, aber auch wieder verengt, da Temme ja allenfalls ein Einzeltäter gewesen sein soll. Für solche äußerst aufwändigen Schauspiele (inklusive der kurzfristigen Strategie-Änderungen) gibt es gute außenpolitische (geostrategische) Erklärungen (=hatten wir schon ausführlich auf diesem Forum), während man die Ablenkung von kleinen Lichtern wie den Uwes und anderen viel „billiger“ hätte haben können. Aber wie gesagt, ein Ablenkungsbedarf war ja 2005 bezüglich den Uwes ja nicht einmal im geringsten erkennbar.
Und dass ein Staat wie unserer mordet, um „Ermittlungen gegen die Hinterhofmoschee hinter dem Internetcafe“ besser geheim halten zu können, halte ich für unrealistisch. Falls doch, wäre Temmes anrüchige Rolle nicht so demonstrativ an die Öffentlichkeit durchgereicht worden.
Hallo,
auch wenn es zunächst nicht direkt etwas mit dem NSU-Prozess zu tun hat, bitte ich euch um die Untersuchung und Wertung des Lübcke-Mord-Prozesses. Denn ich finde hier etliche Parallelen!
Da wären zum einen nicht nur die fehlenden Beweise und Augenzeugen, sondern auch die an den Haaren herbeigezogenen und sogar zuerst von der Presse publizierten Motive, interessanterweise schon vor der Verhaftung des angeblichen Täters. So absurd das Tatmotiv auch ist, gibt es weit stärkere Tatmotive und mögliche Täter in dem direkten Umfeld Lübckes – einschließlich des Tathergangs und der anschließenden merkwürdigen Aktionen – ja auch des herbeigeholten Sanitäters ohne gleichzeitige Benachrichtigung der Polizei!
Bemerkenswert finde ich nun die Dublizität der Geständnisse von Zschäpe und Ernst, die die Thesen der STAATsanwaltschaft stützen, obwohl diese nicht ganz logisch zu sein scheinen. Das Interessante daran ist aber, dass sie sich nicht mündlich zu den Vorwürfen oder ihrer Geständnisse äußern, zu Beispiel in Befragungen der Richter und Anwälte, um die Wahrheit und Wahrhaftigkeit herauszufinden. Ein Geständnis an sich kann durch Druck (früher nannte man es Folter) oder durch Zugeständnisse erhalten werden. Dieses würde wahrscheinlich durch Widersprüche bei einer Befragung der Beschuldigten herauskommen können. Also belässt man es bei einem schriftlichen Geständnis, auch damit sich die Beschuldigten nicht in Widersprüche verheddern. Zudem ist auch nicht klar wie und unter welchen Umständen das schriftliche Geständnis erfolgte: Vorgefertigt nach Gesprächen mit den Beschuldigten? Vorgefertigt ohne Gespräche mit den Beschuldigten, aber auf Grund der Anklageschrift? In welcher Verfassung waren die Beschuldigten, als sie die Geständnisse unterschrieben? Sind die schriftlichen Geständnisse ihnen vorgelegt und vorgelesen worden, wie es Notare machen müssen? Sind Staatsanwälte oder Richter bei der Abfassung bzw. der Unterschriftleistung der Beschuldigten (Zschäpe oder Ernst) als Zeugen anwesend gewesen?
Das bedeutet beim Lübcke-Mord: Zusätzlich zu dem schriftlich vorgelegten Geständnis Stephan Ernsts muss er in der Verhandlung zu seiner Tat und dem Tathergang doch weiter befragt werden, um seine Glaubwürdigkeit und die Plausibilität des Geständnisses zu ergründen; zumal er ein erstes Geständnis schon einmal widerrufen hat. Erfolgt das auch in diesem Prozess nicht, sehr ich noch eine weitere Parallele. Dann ist es so wie im NSU-Prozess, bei dem zwar im Urteil die
Taten genau geschildert werden, es aber keine Zeugen gibt und auch keine Beweise, nicht einmal Indizien. (Wenn man logisch denkt, können einzig die Richter und die Staatsanwaltschaft bei den Taten anwesend gewesen sein, da sie den Tathergang so genau beschreiben – nicht einmal Frau Zschäpe, da sie zu Hause gesessen haben soll.)
Vielleicht finden sich hier auch für den Lübcke-Mord Prozessbeobachter, die Aufklärung bringen können.
Danke für Ihren Kommentar.
Der NSU-Komplex hat insofern eine tatsächlich historische Sonderstellung, weil zu zentralen Ausgangssachverhalten
1. umfangreiche (staatliche) Ermittlungsakten der Öffentlichkeit zugänglich sind
2. die ermittelnden Beamten zum großen Teil vor Untersuchungsausschüssen kritisch zu ihren Ermittlungen befragt wurden und von diesen Vernehmungen Wortprotokolle existieren und
3. der (Tat)Ort der sogenannten Selbstenttarnung des NSU in Eisenach-Stregda am Tattag von mindestens 12 verschiedenen Fotografen sowohl im WoMo als auch außerhalb fotografiert wurde.
Die öffentlich zugängliche Datenbasis ist in diesem Fall tatsächlich so umfassend, dass weitreichende und nach kriminalistischen Standards abgesicherte Schlussfolgerungen gezogen werden können. Dadurch erscheint es in diesem (einmaligen) Fall immerhin – wenn auch mit geringer Wahrscheinlichkeit – möglich, die Ermittlungsbehörden des Staates selbst davon zu überzeugen, dass die von Bundesanwaltschaft und Tatgericht errichtete Tathergangshypothese nicht zu halten ist. Wie gesagt, dass ist beim NSU immerhin möglich aber trotzdem wenig wahrscheinlich. Wenn überhaupt wird es sehr lange dauern, bis da etwas in Bewegung kommt. Eine Vorstellung davon, wie lange, vermittelt dieser Beitrag. Und dieser Mann war vom Fach und hatte eine hohe Reputation:
http://friedensblick.de/29800/schwierigkeiten-von-wolfgang-sielaff-geben-einblick-in-behoerdenleben/
Dagegen entziehen sich der Mord an Herrn Lübcke und auch das Attentat am Breitscheidplatz in Berlin aufgrund der vollkommen unzureichenden öffentlichen Datenlage einer präzisen Analyse. Das was bekannt ist reicht meines Erachtens nicht aus, eine andere Wirklichkeit der Tathergänge so zu konstruieren, dass diese plausibel und vor allem leicht verständlich die von den Ermittlungsbehörden errichteten Tathergangshypothesen übersteigt. Allerdings kann man es nicht ausschließen, dass auch in diesen Fällen noch umfangreiches Aktenmaterial veröffentlicht wird. Das würde die Lage möglicherweise ändern.
Zwischen Lübcke-Prozess (benannt nach dem Opfer) und NSU-Prozess (benannt nach der vermeintlichen Täter-Bande) gibt es trotz vieler Unterschiede ein paar markante Gemeinsamkeiten:
– ein langes schriftliches, anwaltlich verlesenes Geständnis …
– … das erst mit der zweiten Garnitur von Zschäpes Anwälten bzw. Ernsts dritten Anwalt möglich wurde;
– neben der Hauptangeklagten Zschäpe gab es die ganz und gar nicht harmlosen „Neben-“ Angeklagten Andre E(minger), Holger G(erlach) und Carsten S(chultze), deren vollständige Nachnamen aber (warum auch immer) so „schutzbedürftig“ gewesen sein sollen, dass die Mainstream-Presse sie dem Publikum zunächst vorenthielt; aktuell im Lübcke-Prozess genießt Stephan Ernsts Mittäter Markus H. diesen Schutz bis auf weiteres und auch hier ist keine vernünftige Erklärung ersichtlich (abgesehen von der brisanten Hypothese einer „schützenden Hand“, die beim NSU ja als gesichert betrachtet werden kann).
Markus H. durfte (versehentlich?) legal Waffen besitzen, obwohl er schon seit vielen Jahren als Neonazi in den Akten geführt wird und 2009 zusammen mit Stephan Ernst und anderen Rechtsradikalen eine DGB-Demo tätlich angriff. Ernst musste damals sitzen, H. blieb (versehentlich?) auf freiem Fuß.
In der Ablehnung der Haftbeschwerde Anfang 2020 wird H. vom Gericht (das dieses Wort von H.s früherer Lebensgefährtin übernahm) als „Macher“ bezeichnet.
„Der Lebensstil von Markus H. soll auf Verheimlichung angelegt gewesen sein. Mehrfach soll er nicht unter Klarnamen aufgetreten sein.“ Das sollte eigentlich genügen, dass sein Familienname nicht als schützenswerter betrachtet wird als der von Stephan Ernst – außer, wenn nicht nur H. allein, sondern auch staatliche Stellen an der „Verheimlichung“ seines Lebenswandels interessiert oder sogar beteiligt waren.
Ernst, der in Kindheit und Jugend unter einem äußerst gewalttätigen Schwerstalkoholiker als Vater litt, will eigentlich aus der rechten Szene ausgestiegen sein, schaute letztes Jahr als 46-jähriger Familienvater (verheiratet mit einer Russin) aber immer noch schier hörig zur Vaterfigur in Gestalt des „Machers“ Markus H. auf und ließ sich von ihm eine „Aktion“ gegen Lübcke in den Kopf setzen. Aktuell zeigt er einigermaßen glaubhaft „Reue“ hinsichtlich seiner Tat und er wolle sich seiner Verantwortung stellen.
Reue und Übernahme einer Mitverantwortung ist dagegen von Markus H. bestimmt nicht zu erwarten – die eingelegte Haftbeschwerde zeigt deutlich seine Was-gehen-Ernsts-Taten-mich-an-Einstellung.
Daher ist nach derzeitigem Stand folgende Rollenverteilung durchaus plausibel: Ernst als labiler und beeinflussbarer Täter wurde angestiftet von einem eiskalt agierendem Leithammel Markus H, der (wieder einmal) Ernst als Trottel nutzte und vor sich hertrieb, um ihn für sich morden und in den Knast gehen zu lassen. H. müsste daher gleichberechtigt als Täter neben Ernst sitzen oder noch viel mehr als beim Duo Wohlleben/Schultze sogar als der kriminellere der beiden betrachtet werden.
Im Gegensatz zu Zschäpe war Markus H. am Mord-Tatort dabei und das weder zufällig noch ahnungslos.
Seine Anstiftung ist so glasklar ersichtlich wie die des Peter Urbach in RAF-Zeiten. Und Urbachs Rückendeckung durch den Staat, der sich dadurch als Auftraggeber des Anstifters erwies, zeichnet sich auch bei Markus H. ab.
Und so wie beim Buback-Mord bestimmte staatliche Stellen über die Vollzugsgehilfin Verena Becker nicht nur eine böse RAF dem Volk vorführen wollten, sondern eigene Motive zur Beseitigung eines lästig gewordenen Buback hatten, so ist auch dieses Kapitel bei Lübcke noch längst nicht ausermittelt.
Ernst macht geltend, bei seinem ersten Geständnis habe er auf Anraten seines damaligen Verteidigers Dirk Waldschmidt Markus H. aus dem Geschehen rausgehalten. Auch hier wie bei Zschäpes Anwälten die dringende Frage: Wen verteidigen die eigentlich?
https://www.hna.de/welt/mord-luebcke-stephan-ernst-schuss-gestaendnis-gericht-prozess-frankfurt-kassel-zr-90018139.html
https://www.hna.de/kassel/frankfurt-prozess-luebcke-walter-stephan-ernst-mitwisser-90019660.html
Was der die ganze Zeit abgekürzte Familienname vermuten ließ, ist nun eingetreten:
Er wird nicht mehr der Beihilfe zum Mord verdächtigt:
Markus H., der Mitangeklagte im Mordfall Walter Lübcke, wird aus der Untersuchungshaft entlassen,
https://www.spiegel.de/panorama/justiz/walter-luebcke-prozess-in-frankfurt-mitangeklagter-markus-h-kommt-frei-a-5b35e9db-e3c8-4b42-930c-9dc358de51d1
Die Familie Lübckes kritisierte die Entlassung H.s aus der Untersuchungshaft indes als “kaum zu ertragen”.
Ein Sprecher der Familie Lübcke erklärte laut der Nachrichtenagentur AFP, die Angehörigen seien “fest davon überzeugt, dass die Tat von beiden Angeklagten gemeinschaftlich geplant und gemeinschaftlich verübt worden ist”.
Es sei “sehr bitter, dass der von den Anwälten der Angeklagten herbeigeführte ‘Geständniswirrwarr’ zu dieser Entscheidung beigetragen hat – sie widerspricht der Überzeugung der Familie diametral”, sagte der Sprecher.
“Er wird nicht mehr der Beihilfe zum Mord verdächtigt” Zitat Ende
Doch wird er. Allerdings sieht das Gericht keinen dringenden (Tat)Verdacht mehr und hat den Haftbefehl deswegen in Verbindung mit der langen U-Haft außer Kraft gesetzt. Die Bundesanwaltschaft bejaht dagegen auch weiterhin einen dringenden Tatverdacht und will gegen die Haftentlassung Beschwerde einlegen. Es ist also offensichtlich, dass das Gericht im Fall dieses Angeklagten die Auffassung der Bundesanwaltschaft nicht teilt. Ein starkes Indiz für die Unabhängigkeit des Gerichts.
Im übrigen muss ich bei “Beihilfe zum Mord” immer an Holger Gerlach denken. Wie der sich Stück für Stück, und immer “nach Rücksprache mit seinem Anwalt” in den Vernehmungen selbst belastet hat, solange, bis der Haftbefehl schließlich auf “Beihilfe zum Mord” erweitert wurde.
Danke,
apropos, da Sie das Attentat auf dem Breitscheidplatz erwähnen, möchte ich auf das Protokoll des 1. Untersuchungsausschusses des Berliner Senats zum Attentat aufmerksam machen. Dort stellt der Bundesanwalt Thomas Beck (Leiter der Abt. Terrorismus beim Generalbundesanwalt) – sozusagen als Arbeitsgrundlage – fest: “Der Stand im Verfahren wegen des Anschlag stellt sich zurzeit wie folgt dar: Am 19. Dezember 2016 fuhr gegen 20 Uhr in Berlin ein Sattelschlepper Typ Scania nebst Auflieger mit polnischem Kennzeichen, von der Kantstraße kommend, mit einer Geschwindigkeit von ca. 49 km/h in die Einfahrt des Weihnachtsmarktes an der Gedächtniskirche am Breitscheidplatz. Nach 60 bis 80 Metern kam der Lastkraftwagen auf der Budapester Straße zum Stehen. Das
Fahrzeug erfasste auf dem Weihnachtsmarkt zahlreiche Personen. Hierdurch wurden unmittelbar oder mittelbar über 60 Personen körperlich oder seelisch verletzt sowie elf getötet. Darüber hinaus wurde Łukasz Robert Urban, der vom Halter des Sattelschleppers als Fahrer eingesetzt worden war, in der Fahrerkabine erschossen. Fahrer des Lastkraftwagens war Anis Amri, der anlässlich einer Personenkontrolle am 23. Dezember 2016 durch italienische Polizisten erschossen wurde.”
Dabei verwundert allgemein, dass diese Darstellung – immerhin ein halbes Jahr später, 3. Juli 2017 – nicht nur hingenommen, sondern auch noch von Berliner (!) Abgeordneten als Grundlage akzeptiert wurde, obwohl sie der Realität überhaupt nicht entsprechen kann!
1. “nach 60 bis 80 Metern” Das sind 20 Meter Unterschied, also 3 bis 4 Budenlängen, und sogar bei einem stillstehenden LKW. Überhaupt – von welcher Einfahrt wurde diese Entfernung gemessen? (Soll hier nur durch Erwähnung von Zahlen Seriosität und Wissenschaftlichkeit vorgegaukelt werden?)
2. “ca. 49 km/h” Wieso wird bei einer so ungraden Zahl wie 49 km/h ein ca. vorgesetzt? Soll auch hier eine “genaue, aber doch nicht so genaue …” Darstellung vorgegaukelt werden? Bei “ca.” bietet sich doch nur “ca. 50 km/h” an, also von “45 km/h bis 54 km/h”; wenn dann “49 km/h” erwähnt wird, ist die Geschwindigkeit ziemlich genau “49 km/h” und bei “ca. 49 km/h” ist es der Bereich von “48,5 km/h” bis “49,4 km/h”. Woher will man die Geschwindigkeit so genau wissen? Zumal sie ohnehin geschwankt haben dürfte, sonst würde der LKW nicht zum Stehen gekommen sein. Sollte allerdings “ca. 49 km/h” nur “so dahergesagt” worden sein, könnte das auch auf seine anderen Aussagen zutreffen, denen man dann auch nicht unbedingt trauen könnte und sollte.
3. Vor allem, wenn man den “dicksten Hund” sich zu Gemüte führt: “von der Kantstraße kommend”! Dass das gar nicht möglich war und es auch keine Spuren – nicht einmal gelegte – dafür gibt, ist reichlich peinlich! Wieso wird dieses noch ein halbe Jahr später propagiert – allerdings kenne ich nicht die Darstellung des Untersuchungsausschusses des Bundestags zu diesem Thema.
Ich habe daher eine Theorie, die die Sachverhalte erklären könnte. Die Bundesregierung / der Senat hatte eine (Stabs-)Übung zu einem Terroranschlag in Auftrag gegeben , und das, was der Vertreter der Bundesanwaltschaft vorgetragen hat, war die offizielle Szenariobeschreibung. Sie liegt also so der Bundesanwaltschaft vor. Da es bei der Übung weniger auf die vorausgegangenen Ursachen ankommt, als lediglich auf den Zustand, der nachher während der Übung der vorherrscht, braucht auf eine stichhaltige Szenariobeschreibung kein Wert gelegt zu werden. Es sieht also so aus, als ob die eigentliche Übung gegen 20:45 Uhr mit Schließung des Weihnachtsmarktes beginnen sollte und daher früher, hauptsächlich ab 20:00 Uhr vorbereitet wurde. Die überproportionale vorhandenen ausländischen Opfer bzw. Zeugen deuten auch auf eine Aktion einer Crisis-Firma hin, die möglichst ausländische Akteure einsetzt, da diese kurz ihre (Zeugen-)Aussagen machen (übrigens auch eine Leistung einer Crisis-Firma) und dann nicht mehr greifbar sind.
Wer im Falle des Breitscheidplatzes diese Übung letztendlich zu einem echten Anschlag umfunktioniert hat – Medien oder Politik – kann ich logischerweise nicht sagen. Ich tippe auf die Medien, da so viele Journalisten so schnell vor Ort waren, andererseits die Politiker sich anfänglich weder zu Statements noch zu Trauerfeiern überreden ließen.
Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Darstellung des Vertreters der Bundesanwaltschaft im 1. Untersuchungsausschuss des Senats: “Wir hatten einige Beschuldigte. Der erste war ein Naved Ballo – [phonetisch] –, der aufgrund eines Zeugenhinweises in den Fokus der Ermittlungen geraten ist. Er wurde auch kurz nach der Tat am 19. Dezember in der Nähe des Tatorts vorläufig festgenommen, aber die durchgeführten Ermittlungen haben den Tatverdacht sehr rasch entkräften können. Ballo wurde am
Abend des 20. aus der Haft entlassen. Das Verfahren ist mittlerweile eingestellt.”
Nirgendwo – vor allem nicht im Untersuchungsausschuss – wird geschildert und vor allem begründet, wie der Tatverdacht so schnell und gründlich ausgeräumt werden konnte. (Spekulation: Außer Ballo konnte beweisen, dass er zwar den LKW gefahren hatte, aber eben nicht über den Breitscheidplatz, sondern rückwärts an diesen heran, und er ein Mitarbeiter der Crisis-Firma war …)
Merkwürdig ist wieder einmal, dass man von späteren Beschuldigten alles Wege und Tätigkeiten kennt und sogar bewiesen haben will (obwohl das heute schon wieder infrage gestellt worden ist), jedoch gar nichts über den Verlauf des eigentlichen Anschlags (es steht nur “20:00 Uhr: Anschlag”). Aber selbst wenn alle Beobachtungen zu Amri zuträfen, wäre das immer noch kein Beweis für seine Täterschaft. Gerade die lückenlose Darstellung einer Überwachung könnte beweisen, dass Amri vom Staatsschutz beobachtet oder eventuell sogar geführt wurde und als möglicher Täter auftreten sollte. Aber das ist sicher nur eine Theorie …
Wie erwartet, hat Stephan Ernst für den Mord an Walter Lübcke lebenslang bekommen. Markus H. hingegen „verlässt Gericht quasi als freier Mann“:
„ein Jahr und sechs Monate wegen Verstoßes gegen das Waffengesetz. Ursprünglich war H. wegen Beihilfe zum Mord angeklagt gewesen“,
https://www.zeit.de/news/2021-01/28/markus-h-im-luebcke-prozess-zu-bewaehrungsstrafe-verurteilt
Noch am Morgen vor dem Urteil schrieb n-tv über Markus H., für den die Bundesanwaltschaft 9 Jahre und 8 Monate geforderte hatte:
Die Ex-Freundin von H. und Mutter der gemeinsamen Tochter beschreibt ihn als Rechtsextremist mit einer Affinität zu Waffen, der versuche alle in seinem Umfeld zu manipulieren.
„Ihre Aussage deckt sich mit den Erkenntnissen der Bundesanwaltschaft. H. habe Ernst zur Tat vermutlich angestachelt, er habe die Tat mit ihm gemeinsam geplant und H. habe genau gewusst, was Ernst vorhabe. Aber man habe keine Beweise gefunden, dass er in der Tatnacht auch mit am Haus der Familie Lübcke war. Nur die DNA von Stephan Ernst habe man gefunden. Was aber nicht bedeutet, dass Markus H. nicht trotzdem auch am Tatort war“,
https://www.n-tv.de/politik/Ende-eines-spektakulaeren-Mord-Prozesses-article22318345.html
So wie man in H. einen schon fast zwanghaften Manipulator sehen muss, zeigt Ernst sich als passendes Gegenstück, nämlich als leicht zu Manipulierender:
Ernst, der laut Gutachter Leygraf zwar zu spontanen Gewaltausbrüchen neige, hatte aber eigentlich längst ein bürgerliches Leben mit Ehefrau, Arbeitsstelle etc. begonnen und war als Mittvierziger ja auch kein allzeit hitziger Jüngling mehr.
Labilität und Manipulierbarkeit (und vermutlich auch Dämlichkeit) kann man an seinen Anwalts-Wechseln samt drei verschiedenen Aussage-Varianten erkennen sowie daran, dass er immer noch mit H. Umgang hatte, seinem alten (und inzwischen gewesenen) „Freund“, der 2009 schon einmal auf freiem Fuß geblieben war, während Ernst für eine eigentlich gemeinsame braune Straftat hatte sitzen müssen.
„Das Besondere aber sei, so Leygraf, dass Ernst selbst Freunde, Bekannte und Arbeitskollegen habe, die ausländische Wurzeln hätten. Das passe nun gar nicht zu seiner rechtsextremen Ideologie. Auch Ernst kann es nicht erklären.“
Dem Frankfurter Gericht kann man nicht vorwerfen, dass es für eine evtl. Verurteilung von Markus H. wegen Mord-Beihilfe auf harte Beweise nicht verzichten wollte. Dennoch fällt der scharfe Kontrast zum Münchner NSU-Urteil auf:
Dort hatte man Wohlleben keine Anwesenheit an den Mord-Tatorten vorgeworfen und ihn nicht mal verdächtigt, die Uwes aufgehetzt oder angestiftet zu haben – es ging lediglich um die angebliche Erfüllung einer angeblichen Bitte der Uwes um Waffen-Beschaffung (als das, wofür Markus H. nun in Frankfurt mit einer Bewährungsstrafe von nur anderthalb Jahren davonkommt).
Ob Wohlleben (sofern er überhaupt maßgeblich in die Beschaffung verstrickt war) damals schon den von der Anklage behaupteten späteren Verwendungszweck der Ceska gekannt haben konnte, brachte der überlange Prozess nicht ans Licht. Denn Anklage und Gericht konnten der Öffentlichkeit ja noch nicht einmal Genaueres zu der Frage sagen, ob die Uwes selber zum Zeitpunkt der Ceska-Beschaffung bereits Mordpläne hatten und wie konkret diese aussahen.
Zur Beantwortung dieser Frage hätte das Münchner OLG nämlich beleuchten müssen, wann, wie und warum die wegen Verhaftungsgefahr untergetauchten Uwes (Weiterfliehen nach Südafrika?) und ihre Beate (wollte sich bald der Polizei stellen?) sich von einem eher passiv reagierenden Kleinkriminellen-Trio in ein eiskalt verschworenes, aktiv mordlustiges Schwerverbrecher-Trio verwandelt haben sollen.
Diese Frage war weder unwichtig noch selbsterklärend. Und das Unterlassen ihrer Aufklärung dürfte alles andere als zufällig gewesen sein:
Das betreute Abtauchen und die (legale) Beschäftigung beim Bauunternehmer, Neonazi und V-Mann Marschner – zeitgleich zu den ersten der angeklagten NSU-Morde – wollte man (wohl aus nicht näher dargelegten Staatsinteressen) nicht so gerne beleuchten.
Ebensowenig beleuchten wollte man den „Fluchthelfer“, Wohnungsbeschaffer und langjährigen V-Mann Thomas Starke. Obwohl er als Ex-Zschäpe-Lover und Sprengstoff-Beschaffer für die (von einem Polizisten angemietete) Zschäpe-Garage die im Vergleich zu Wohlleben viel interessantere Person gewesen wäre.
Denn das Fluchtziel der Untergetauchten war nicht mehr in Thüringen, sondern in Sachsen und damit im „Revier“ des Blood-&-Honor-Funktionärs Thomas Starke. Dessen waffen-affine Leute konnten den Neuankömmlingen nicht nur Unterkunft, sondern bestimmt auch ideologische Erbauung und (vor allem ganz unauffällig) jedwede waffentechnische Ausrüstung bieten – ein „Hilferuf“ ins benachbarte Thüringen zum dortigen „Platzhirsch“ Wohlleben war daher eigentlich gar nicht nötig, zumal der ja kein „Waffenlager“ hatte.
Ein solcher „Hilferuf“ konnte auch nicht erwarten, bei Wohlleben auf eine sofortige, vorbehaltslose und unkomplizierte „Hilfsbereitschaft“ zu stoßen.
Denn als NPD-Politiker war er eine öffentliche Person und in schon im eigenen „Revier“ in ständiger Sorge darum, von den Behörden belauscht und überwacht zu werden.
„Es gibt keine DNA von H. am Mord-Tatort“ – so schlicht und einfach (aber doch erfolgreich!) wie die Verteidigung von Markus H. hätte die von Wohlleben nicht argumentieren können.
All den genannten (zusätzlichen!) Mängeln der NSU-Anklage zum Trotz – das alles spielte für den Schuldspruch durch Götzl überhaupt keine Rolle!
„Die Uwes haben nie konkrete Namen von Menschen genannt, die ihnen so verhasst sind, dass sie evtl. auf sie schießen wollten“ – eine solche Einlassung durch die Wohlleben-Anwälte hätte im Rahmen der Unschuldsvermutung eigentlich durchschlagenden Erfolg haben müssen. Es nutzte nichts – aber wo blieb hier die Wiederlegung (samt notwendigen Beweisen) durch die beweispflichtige Anklage?
Die Verteidigung von Markus H. hätte dagegen wirklich nicht damit argumentieren können, Markus H. habe nichts von Stephan Ernsts (u.U. tödlichen) Hass gegen Walter Lübcke gewusst. Denn der waffenbeschaffende Manipulator und der manipulations-anfällige Stephan Ernst hatten sich als ideologische Gesinnungsgenossen oft genug getroffen und ihren gemeinsamen Hass gegen Walter Lübcke und dessen Migrations-Freundlichkeit gepflegt, in Gesprächen wie auch in öffentlichen Veranstaltungen.
Eigentlich ist es doch genauso wie in München. Die V-Leute, die noch unter den Lebenden sind, kriegen Bewährungsstrafen,
Das staatliche Feigenblatt in Form der Bundesanwaltschaft schreit nach Revision, damit es nicht all zu auffällig ist und in ein paar Jahren fragt eh niemand mehr nach irgendwas. Genauso war es doch mir dem Dachdecker und dem Wohnmobilausleiher beim NSU Prozess.
Das Urteil gegen Markus H. steht auch im starken Kontrast zum Urteil gegen einen anderen „Waffenbeschaffer“, den Vater des 17-jährigen Amok-Läufers Tim K. in Winnenden 2009:
„Im Februar 2011 hatte das Landgericht bereits ein Urteil gesprochen gegen Jörg K.: Ein Jahr und neun Monate Haft auf Bewährung, nicht nur wegen Verstoßes gegen das Waffengesetz, sondern vor allem wegen fahrlässiger Tötung in 15 und fahrlässiger Körperverletzung in 14 Fällen. Einen Prozess wie diesen hatte es in Deutschland seit 100 Jahren nicht gegeben: Auch K. hat sein Kind verloren und ist nach Auffassung des Gerichts dennoch ein Täter. ,Ohne das komplette Versagen des Vaters wäre der Sohn nicht an die Waffe und die Munition gekommen’, begründete der Richter damals sein Urteil“,
https://www.sueddeutsche.de/panorama/neuer-prozess-gegen-vater-des-winnenden-attentaeters-dieses-verfahren-wird-wunden-aufreissen-1.1523545
„Das komplette Versagen des Vaters“ bestand eigentlich nur in der nicht ausreichend sicheren Aufbewahrung der Waffe im elterlichen Schlafzimmer, was zudem nach damaligem Recht nur eine Ordnungswidrigkeit war, keine Straftat. Erwerb und Besitz waren dagegen legal gewesen. Dem Vater half auch nicht seine Ahnungslosigkeit, dass der Sohn das heimliche Waffenversteck im elterlichen Kleiderschrank kannte.
Und als „Kind“, vor dem jegliche Waffen wegzuschließen sind, hatte nicht einmal Vater Staat selber den fast volljährigen Tim K. behandelt: Seine Musterung und Einberufung im Rahmen der damals noch bestehenden Wehrpflicht stand nämlich unmittelbar bevor, was ja bekanntlich den Umgang mit Schusswaffen beinhaltet.
Daher war naheliegend, dass Tims Besuche in der (staatlichen) Psychiatrie Weinsberg nur dazu gedient hatten, mit ein bisschen Psycho-Flunkern als wehruntauglich ausgemustert zu werden.
Der Vater wollte dies im Prozess geklärt haben, weil man ihm vorwarf (was dann auch so ins Urteil gelangte), er hätte aufgrund der Psychiatrie-Besuche des Sohnes dessen (angeblich echte) Amok-Neigung kennen müssen.
Aber leider, leider stand der Datenschutz einer gerichtlichen Beweisaufnahme entgegen:
Die postmortalen Persönlichkeitsrechte des verblichenen Massenmörders wögen stärker als das juristische Aufklärungsinteresse und auch als das (Sorge- bzw. Erb-)Recht der Eltern. Es gab also weder weder eine Vorladung der Psychiatrie-Experten noch Einsicht in ihre Akten!
Hätten die (staatlichen) Pycho-Experten erscheinen müssen und Tims Flunkern bestätigt, dann könnte man dem Vater keine Kenntnis von (echten) Amok-Gefahren vorwerfen – hätten sie dagegen die Amok-Gefahr als echt eingestuft, dann wäre ihr Nicht-Reagieren als staatliches Versagen entlastend für den Vater gewesen (und belastend für den Staat).
Man brauchte aber den Vater als alleinigen Sündenbock, schon aus Haftungsfragen: Nach dem Strafprozess kamen nämlich die zivilrechtlichen Schadenersatzforderungen, die den Unternehmer letztlich ruinierten, ohne dass alle Forderungen der Opfer erfüllt werden konnten.
(Als Opfer sah sich übrigens zunächst auch die Stadt Winnenden, die den Neubau der Tatort-Realschule als Amok-Folge vom Vater ersetzt haben wollte!)
Sich ganz alleine die A-Karte zuschieben lassen wollte Tims Vater dann aber auch nicht:
Mit dem Argument, die Betreuer seines Sohnes hätten erkennen müssen, welche Gefahr von diesem ausgehe, hat er 2016 einen Zivilprozess gegen die Psychiatrie Weinsberg anstrengt, damit die Psychiatrie in Weinsberg Teile des millionenschweren Schadenersatzes trägt,
https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.amoklauf-von-winnenden-vater-von-tim-k-streitet-mit-psychiatrie.f8cdd795-ee2f-40e8-b8b2-88d50e862d49.html
Thomas Fischer war bis zu seiner Pensionierung Vorsitzender des 2. Strafsenats am BGH und schreibt in einer SPIEGEL-Kolumne zu Rechtsthemen. Er kritisiert an den Prozess-Berichten zum Lübcke-Mord die vorschnelle Auslegung des erst mündlich ergangenen Urteils durch die Medien.
Seinerseits stellt er dem Vorsitzenden Richter aber auch bereits jetzt ein vernichtendes Zeugnis aus – allerdings in einem Punkt, den das Gericht vermutlich für unproblematisch hält und daher im Urteilstext vielleicht sowieso gar nicht erwähnen will, [1].
Die Verhandlung „hatte ja, wie man sich erinnert, mit der bemerkenswerten Aufforderung ,Hören Sie nicht auf Ihre Anwälte, hören Sie auf mich!’ des Vorsitzenden an die beiden Angeklagten begonnen. Er hatte auch gleich erläutert, wie er sich das vorstellte, wenn man auf ihn hört: ,Ein freimütiges Geständnis wirkt sich immer günstig aus.’ (…)
Nun könnte man es gewiss für einen ziemlich misslungenen Scherz halten, die Verhängung von lebenslanger Freiheitsstrafe bei gleichzeitiger Feststellung ,besonders schwerer Schuld’ für einen ,günstigen’ Ausgang zu halten.“
Für Fischer ist klar, „dass der Scherz mit dem günstigen Ausgang nicht witzig gemeint war“. Folglich ist für ihn ein derartiges richterliches Herauskitzeln „von Geständnissen (jeder Art) auch gegen den Rat der Verteidiger“ eine übergriffige und keinesfalls harmlose Irreführung des Angeklagten durch den Richter – auch wenn Fischer (wohl aus kollegialer Rücksichtnahme) diesen Vorwurf so deutlich nicht aussprechen will.
Denn für ihn ist Stephan Ernst „nicht nur ein gewaltbesessener Fanatiker, sondern auch ein eher dummes, armes Würstchen, wie fast alle Menschen mit ähnlich verkrüppeltem Weltbild und Motivationsapparat“ – und gerade auch solche Würstchen haben das Recht auf ein faires Verfahren, das nicht unter Ausnutzung ihrer Dummheit manipulierend auf sie einwirkt.
Zwar sieht (für Laien) das Recht, schweigen zu dürfen und sich nicht selbst belasten zu müssen, manchmal aus wie ein überflüssiges und schädliches Privileg, das nur die Wahrheitsfindung behindert und das die Anklage oder das Gericht daher bei Bedarf ruhig mal aushebeln oder umgehen sollen.
Es ist aber ganz grundlegend: Das (völlige) Schweigen eines Angeklagten darf nicht gegen ihn verwendet werden.
Hierfür hatte der Gesetzgeber einen triftigen Grund, den man nicht auf den ersten Blick sieht, den der Richter im Lübcke-Verfahren indirekt aber selbst bestätigte:
Ernsts Schilderungen seien nur im Bezug auf den eigenen Tatanteil glaubwürdig (also nicht im Bezug darauf, dass er den Kumpan Markus H. als Mittäter bzw. als Anstifter darstellte).
Auf Deutsch, während der Richter in ein (völliges) Schweigen eines Angeklagten NICHTS Negatives hineindeuten darf (sondern alle Verurteilungsgründe für sein Urteil selber liefern muss), kann dagegen im Falle einer Aussage des Angeklagten (vereinfacht gesprochen) der Richter sich bei beweisarmen Vorgängen aussuchen, welche Aussagen-Teile er für plausibel und glaubhaft hält und welche er dem Angeklagten als unvollständig oder als unbewiesene Schutzbehauptungen ankreidet.
Die Hoffnung eines Angeklagten, in einer aussichtslos scheinenden Lage durch ein Geständnis wenigstens ein milderes Urteil zu erreichen, ist oftmals trügerisch:
Neulich hat in einem Drogenprozess der Angeklagte die (klaren) Beweise akzeptiert und ein Geständnis abgelegt – wenige Minuten bevor sich herausstellte, dass die vorgetragenen Beweise aus formalen Gründen einem Beweisverwertungsverbot unterlagen und gar nicht für eine Verurteilung verwendet werden durften.
Die anschließend dennoch erfolgte Verurteilung zu einer Haftstrafe ohne Bewährung stützte sich daher ausschließlich auf sein Geständnis, wogegen es ein Freispruch geworden wäre, hätte er (hier durchaus vergleichbar mit Markus H.) sein Schweigen durchgehalten!
Weitere Fälle, wie ein Freispruch-Kandidat „mit seiner Aussage praktisch seine eigene Anklage diktiert“, schildert ein Anwalt in einem interessanten Aufsatz, [2].
Stephan Ernst hätte durch eisernes Schweigen offen lassen können, ob er oder der Waffenbeschaffer Markus H. geschossen hat – fanatisch genug für eine solche Tat waren schließlich beide. Und in ihrem Hass schaukelten sie sich vermutlich gegenseitig hoch. Oder falls nicht „gegenseitig“, dann zumindest „gemeinsam“, denn die Rolle des Aufhetzers und Einpeitschers fällt bekanntlich sowieso eher Markus H. zu.
Hätte also nicht nur Markus H., sondern auch Stephan Ernst eisern geschwiegen, stünde es mindestens 2:1 für ersteren als Schützen:
Der Manipulator und Waffenbeschaffer war der aktivere und gerissenere. Hingegen war der manipulierbare und etwas dümmliche Familienvater, dessen Ehefrau ebenso wie etliche seiner guten Bekannten Migrationshintergrund aufweisen, der passivere.
Einzig die DNA am Tatort konnte für Ernst sprechen, aber ohne H. zu entlasten, weder von der Anwesenheit am Tatort (wo es halt keine DNA von H. gab, aber auch nicht unbedingt geben musste) noch von der Schussabgabe aus der Tatwaffe.
Denn nicht nur die Beschaffung dieser Schusswaffe hatte H. auf dem Kerbholz – er war es auch, der sie nach der Tat auf dem Firmengelände seines Arbeitgebers versteckte.
Beide Tatbeiträge („Vorbereitung“ wie „Nachbereitung“ des Mord-Schusses) dürfte Markus H. aus eigenem Antrieb vollzogen haben – von einem Drängen durch Stephan Ernst war jedenfalls nie die Rede. Dazu passt gut, dass H. als der manipulativere, aktivere und hellere sowieso als „Kopf“ des langjährig befreundet gewesenen Duos einzuschätzen ist.
Ohne Ernsts Aussagen hätte sein Anwalt darauf pochen können, es sei nicht auszuschließen, dass sein nicht ganz so gerissener Mandant nur Mitläufer des wahren Schützen gewesen sei, der ihm seine konkreten mörderischen Ansichten nicht offenbart habe, sondern ihn unter irgendwelchen Auskundschaftungs-Vorwänden mitgenommen haben könnte als zunächst ahnungslosen Zeugen der nicht abgesprochenen Mordtat.
Bei einer solchen (angenommenen) Erkenntnislage wäre es dem Gericht vermutlich schwer gefallen, die beiden Hasskrieger so unterschiedlich abzuurteilen wie geschehen – Maximalstrafe für den trotteligen Plauderer, Freispruch für den gerissenen Schweiger. Beiderseitiges Schweigen hätte (nach der Logik des tatsächlichen Freispruchs für Markus H.) zum Freispruch für beide bezüglich der Mordtat führen müssen, was das Gericht angesichts des öffentlichen Drucks vermutlich als „worst case“ betrachtete. Vielleicht daher die „kreativen“ Ausführungen des Richters zur Wirkung von Geständnissen?
Da Angeklagte von all diesen strategisch wichtigen Überlegungen meist keine Ahnung haben (können), gibt es Anwälte, deren Aufgabe es ist, mit und für ihre Mandanten die richtige Strategie auszuarbeiten. Und wollen Richter „Deals“ aushandeln (was „rechtstheoretisch“ sowie sehr problematisch ist), dann haben sie das bisher nicht an den Anwälten vorbei direkt mit den Angeklagten gemacht, sondern über die Anwälte.
„Jedenfalls dürfte die zitierte goldene Regel des Vorsitzenden über die Wirkung von Geständnissen (jeder Art) auch gegen den Rat der Verteidiger den meisten Strafverteidigern vermutlich keinen Anlass geben, sie an ihre Mandanten weiterzureichen“
– die beißende Ironie in diesem gepflegten Fischer-Satz erschließt sich dem breiten Publikum bestimmt nicht. Denn hier brauchte der Anwalt keinen „Anlass“ mehr, um etwas „weiterzureichen“ – der Richter hat ihn bereits öffentlich bloßstellend umgangen und somit zugleich ebenso öffentlich seine anwaltliche Kompetenz herabgewürdigt.
Wer einem anderen „scherzfrei“-ernsthaft etwas Unerfüllbares verspricht, ist ein Lügner und wenn er den Versprechens-Empfänger durch die Lüge zu einem für ihn schädlichen Verhalten animiert, dann ist er je nach Situation und konkretem Tatbestand ein rechtlich belangbarer „Schädiger“.
Und wenn ein leicht Manipulierbarer mit falschen Versprechungen manipuliert wird, dann sind wir nahe am Tatbestand Betrug. Zudem könnte der umgangene Anwalt in der bloßstellenden „öffentlichen Umgehung“ durchaus eine wirtschaftlich und rechtlich erhebliche Rufschädigung sehen. Oder ist alles halb so schlimm, quasi nur eine verzeihbare „experimentelle Strafrechtsanwendung“?
Richter Thomas Sagebiel verteidigte jedenfalls im Gerichtssaal seine sehr spezielle Sicht von der allzeit wohltuenden Wirkung von Geständnissen:
„Zwar habe das Gericht keinen Spielraum bei der Verurteilung zu lebenslanger Haft und der Festellung der besonderen Schwere der Schuld gehabt. Aber Ernst habe nun die Möglichkeit, mit einem Aussteigerprogramm für Rechtsextreme zusammenzuarbeiten, Einfluss auf die mindestens zu verbüßende Strafe zu nehmen und Sicherheitsverwahrung zu vermeiden“, [3].
Hat seiner Meinung nach nicht jeder Angeklagte bzw. dann Verurteilte diese (sowieso bescheidenen Rest-)Rechte?
Und will er ernsthaft behaupten, ausgerechnet denjenigen Angeklagten, die ihr gesetzliches Schweigerecht im Prozess ausüben, dürfe und würde man im Knast diese Rest-Rechte vorenthalten?
Entgegen seinen „erklärenden Worten“ zeigt der Richter doch gerade durch seine Mord-Urteile gegen die beiden Angeklagten, dass er selber in Wirklichkeit auch nichts anderes macht als nach dem Motto „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“ den schweigenden Markus H. mangels Beweisen mit Freispruch zu „belohnen“ und den redenden Stephan Ernst anhand seines Geredes maximal zu bestrafen.
Während der dpa-Bericht durch alle Gazetten [3] – [6] ging und die entsprechenden Google-Snippets auch überschrieben sind mit dem Suchbegriff „Geständnisse von Ernst wirkten sich mildernd auf Urteil aus“, stellt man bei zumindest zwei hessischen Treffern [5] [6] Erstaunliches fest: Die aufgerufenen Texte erwähnen nicht ansatzweise die Worte „Geständnis“ oder „mildernd“!
Hat im Bundesland des Gerichts etwa eine „hilfreiche Hand“ nachbearbeitend eingegriffen, damit den Lesern keine gerichtlichen Peinlichkeiten zugemutet werden?
Die Schonung von einem der beiden mutmaßlichen Täter wäre nur eine Zeitlang ärgerlich und bald vergessen, wenn der Geschonte nicht im Verdacht stünde, viel mehr zu sein als nur ein brauner Täter – ein staatlich betreuter Agent provocateur, V-Mann oder etwas in der Richtung?
Stephan Ernst behauptete, sein erster Verteidiger Dirk Waldschmidt, der selber der rechten Szene angehört, habe ihm Geld von Neonazis für seine Familie versprochen, falls er die Schuld am Mord auf sich nehme und seinen Freund und heutigen Mitangeklagten Markus H. nicht belaste. So sei sein erstes und später widerrufenes Geständnis zustande gekommen. Waldschmidt stellte vor Gericht den Ablauf völlig anders dar, [7].
Dubios bleibt, wie Ernst an so einen dubiosen Anwalt geriet und ob die beiden wirklich nur ein Problem mit der Kommunikation hatten oder auch eines mit der Loyalität.
Aus Ernsts Sicht (deren Aufrichtigkeit wir nicht nachprüfen, aber vielleicht gerade wegen seiner Naivität annehmen können) wurde er dreifach reingelegt: vom Kumpan Markus H., von seinem ersten Anwalt Dirk Waldschmidt und vom Vorsitzenden Richter.
Wer wirklich geschossen hat, wissen wir daher immer noch nicht. Für die Familie besonders schmerzhaft ist nicht nur das Davonkommen des Markus H., sondern die bohrende Frage, ob er von einer „schützenden Hand“ profitiert – wobei die Familie nicht einmal ausschließen kann, dass diese „Hand“ ihn vielleicht sogar mit der Mordtat beauftragt hat.
[1] https://www.spiegel.de/panorama/justiz/eine-sinnlose-erschreckende-tat-a-c30048d4-3113-4094-a11c-79398b09d2cd
[2] https://www.strafverteidiger-wullbrandt.de/drogendelikt-schweigen-keine-angaben-praxisbeispiel/
[3] https://www.badische-zeitung.de/urteil-lebenslange-freiheitsstrafe-fuer-mord-an-walter-luebcke–199744585.html
[4] https://www.tag24.de/nachrichten/regionales/hessen/luebcke-moerder-endlich-verurteilt-das-sind-die-details-update-1816444
[5] https://www.mittelhessen.de/politik/hessen/lebenslang-fur-morder-enttauschung-uber-zweites-urteil_23043213
[6] https://www.op-marburg.de/Mehr/Hessen/Politik/Gestaendnisse-von-Ernst-wirkten-sich-mildernd-auf-Urteil-aus
[7] https://www.fr.de/rhein-main/luebcke-prozess-kein-geld-von-den-kameraden-90089538.html
Der tiefere Sinn, warum man in solchen Verfahren kein Geständnis ablegen und jede Aussage verweigern sollte, erschließt sich wahrscheinlich nur Berufsverbrechern und Rechtsanwälten. Und die halten sich dann in aller Regel auch daran.
Wahrscheinlich wird der eine oder andere jetzt einwenden, dass die Sache ja sonnenklar sei. Er würde in einem solchen Fall auch sicher den Mund halten. Schließlich sei das Thema hier auch schon zig mal – siehe NSU – diskutiert, und man wüsste jetzt, wie man sich da zu verhalten habe. Wie so oft wird dabei der Unterschied zwischen Theorie und Praxis verkannt.
Aussagen sind in aller Regel schon dadurch zu provozieren, indem einfach bewusst falsche Anschuldigungen erhoben werden. Der Drang, sich dann zur Sache einzulassen, ist geradezu übermächtig. Man denke nur mal an das einfache Beispiel, dass einem von der Polizei das Überfahren einer roten Ampel direkt vor Ort vorgeworfen wird, obwohl man sich sicher war, dass die Ampel auf grün stand und man sogar noch einen Zeugen dabei hatte. Das ist zwar kein Strafverfahren, zeigt aber, dass man sich dem kommunikativen Eintritt in solche Verfahren kaum entziehen kann, wenn man nicht von vorherein das Ziel des Verfahrensgegners verinnerlicht hat.
Man kann eine Wirklichkeit welche die der Anklage übersteigt nur konstruieren, wenn man komplett den Mund hält, bis die Konstruktion des Gegners in Gänze – z.B. als Klageschrift – vorliegt. Sich aber hier als emotional und möglicherweise tatsächlich zu unrecht Betroffener solange zurückzuhalten, ist fast unmöglich, es sei denn, man ist abgebrüht genug. Jede Einlassung zur Sache wird automatisch in der Tathergangshypothese der Gegenseite berücksichtigt und es einem selbst verunmöglichen, am Ende eine Realität zu konstruieren, welche die der Anklage übersteigt.