Gabriele Muthesius veröffentlichte im “Blättchen” am 10.04.17 eine interessante Analyse. Darin erklärt sie den Hintergrund folgender Aussage von Wolfgang Schorlau und Ekkehard Sieker:
- “Sowohl Uwe Mundlos, als auch Uwe Böhnhardt waren wenigstens 12 Stunden vor dem offiziell angegebenen Todeszeitpunkt bereits tot.” (kontext)
Die Erklärung sind die Totenflecken bei Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt.
“Die Ausbildung von Totenflecken – sie zählen zu den sogenannten sicheren und früh zu erkennenden Anzeichen des Todes – setzt bereits etwa 20 bis 30 Minuten nach Herzstillstand ein, weil sich nach dem Stopp der Blutzirkulation durch die Wirkung der Schwerkraft das Blut im Körper immer in den am tiefsten gelegenen Gewebepartien sammelt und dort grau-violette bis rötliche Flecken bildet, soweit es nicht durch den Gegendruck eines entsprechenden Untergrundes, auf dem der Körper aufliegt, am Eindringen in die Gefäße und das Gewebe der unmittelbaren Auflagestellen der Leiche gehindert ist.” (blättchen)
Dementsprechend müssten die Totenflecken bei Mundlos im Beckenbereich, Ober- und Unterschenkeln sein. Er saß aufrecht an einem Schrank gelehnt. Bei Böhnhardt müssten sie im Bauchbereich sein, da er seitlich auf dem Bauch am Boden lag. Dort sind sie jedoch nicht, sondern auf dem Rücken:
“(…) dann hätte Mundlos Totenflecken im Gesäßbereich und auf der Rückseite beider Oberschenkel aufweisen müssen und Böhnhardt auf der linken vorderen Körperseite. Ausweislich der Sektionsfotos befanden sich die Totenflecken aber bei beiden Leichen – auf dem Rücken. Und für Mundlos ist überdies im Sektionsprotokoll unter Punkt 18 ausdrücklich vermerkt: ‚Gesäß und Oberschenkelrückseiten unauffällig‘. Das heißt, als die beiden Toten in die Position gebracht wurden, in der man sie auffand, ist schon keine Veränderung an den Totenflecken mehr eingetreten. Ergo müssen Mundlos und Böhnhardt zu diesem Zeitpunkt bereits mindestens zwölf Stunden tot gewesen sein. Da der Camper am 4. November 2011 mittags, um 12:05 Uhr, entdeckt wurde, liegt beider Todeszeitpunkt praktisch zwangsläufig vor Mitternacht am 3. November.” (ebd)
“Dass der Herzstillstand bei Toten, die in sitzender Position oder bäuchlings aufgefunden wurden, deren einzige Leichenflecken jedoch auf dem Rücken manifest waren und sich überdies nach der Bergung und wiederholten Umpositionierung der Leichen – wie bei Mundlos und Böhnhardt – nicht mehr veränderten, in der Auffindeposition eingetreten ist.” (ebd)
In ihrer Befragung im thüringer NSU-Untersuchungsausschuss erklärte jedoch die Gerichtsmedizinerin Prof. Dr. Else-Gitta Mall den Befund damit, dass Mundlos und Böhnhardt innerhalb sechs Stunden nach Ableben umgelagert worden sein könnten. Die Totenflecken hätten komplett verschwinden und woanders wieder entstehen können. Erst nach sechs Stunden ohne Umlagerung der Leichen hätten Totenflecken existieren müssen.
“Also es gibt so eine Daumenregel, dass man sagen kann, wenn die Leiche beispielsweise wird innerhalb von sechs Stunden nach Todeseintritt, dann ist damit zu rechnen, dass die Totenflecke sich innerhalb einer gewissen Zeit vollständig verlagern – entsprechend der neuen Position-, so dass man gar keinen Hinweis kriegen würde, dass die Leiche mal in einer anderen Position bei Todeseintritt gelegen hat.
Und wenn es so zwischen sechs und zwölf Stunden – also Daumenpeilung – die Leiche gewendet wird, dass die Totenflecke sich dann nur partiell verlagern, das heißt, man hat doppelte Totenflecke. Also beispielsweise eine Leiche liegt in Rückenlage und man findet Totenflecke am Buch auch, da kann man sagen, die muss irgendwann mal in Bauchlage gelegen haben. Das haben wir oft, dass das in der Praxis vorkommt, weil natürlich, wenn jemand in Bauchlage verstirbt, dann kommen die Rettungskräfte und legen ihn in Rückenlage, einfach um zu gucken, lebt er noch, muss ich reanimieren oder so etwas. (…)
Und nach zwölf Stunden – Daumenpeilung-, würde man sagen, verlagern die sich gar nicht mehr.”
Abg. Henfling:
Okay. Das heißt aber, das war bei den beiden ja nicht der Fall, dass man irgendwie …
Prof. Dr. Mall:
Nein, also doppelte hat man nicht gesehen, wobei natürlich die Totenflecke – also ich habe hier das Böhnhardt-Protokoll – spärlich auch waren. Da ist natürlich die Beurteilung dann wieder schwieriger, wenn sehr viel Blutverlust ist. Das kann ja so weit gehen, dass gar keine Totenflecke mehr erkenntlich sind bei ganz starken Blutverlust.”
Die entscheidende Frage ist also: Um wieviel Uhr wurden Mundlos, Böhnhardt aus dem Wohnmobil geholt? Die Sterbezeit wäre 12 Uhr gewesen. Das heißt, sie wären bis 18:00 Uhr aus dem Wohmobil herausgetragen worden sein müssen.
Frau Muthesius schrieb in einem früheren Artikel, dass Böhnhardt um 18:00 als erster aus dem Wohnmobil gebracht wurde:
“So aber verzögerte sich die Bergung des ersten Toten, Böhnhardts, durch die Tatortgruppe schließlich bis 18 Uhr[31] und erfolgte somit sechs Stunden nach Auffinden des Wohnmobils. Die Klippe Totenstarre war umschifft, und als die Übergabe der Leichen an ein Bestattungsunternehmen erfolgte – weitere sechs Stunden später, um 00:03 Uhr[32] am 05.11.2011 – waren diesbezüglich ebenfalls keine Probleme mehr zu erwarten.”
Als Quellenangabe gibt sie an:
“Einsatzverlaufsbericht zum Überfall auf die Sparkassenfiliale in Eisenach/Nord am 04.11.2011, Aktenzeichen TH1309-023340-11/9, Sachbearbeitung durch: Lotz, KOK, 23.02.2012 (im Folgenden: Einsatzverlaufsbericht zum Überfall) (…).
[31] Siehe EVB, S. 1.
[32] – Siehe ebenda, S. 2.”
In der betreffenden Akte im Internet finde ich jedoch nicht diese Zeitangabe der Leichenbergung.
Hinzufügung, 10:05.17:
Laut eines bei der Leichenbergung beteiligten Polizeibeamten, Ronald Kö, wäre Böhnhardt um 18:00 aus dem Wohnmobil zuerst getragen worden, Mundlos später.
“Um 18:00 Uhr wurde die erste Leiche geborgen. Die zweite Leiche – kann ich nicht sagen, habe ich nicht notiert.”
Da haben Schorlau und Sieker stark nachgelegt. Auch die Artikel von Gabriele Muthesius im “Blättchen” gefallen mir gut.
Das was die Frau Mall, die sich zwar mit exakter Todeszeitbestimmung an Leichen habilitiert hat ( aber bei beiden Uwes wurde keine gemacht! ) sagt, stimmt für den Fall des Uwe M. n i c h t.
M. hat sich angeblich sitzend selbst erschossen. In sitzender Position bilden sich (schwerkraftabhängig) innerhalb der ersten Stunden Leichenflecken in den unteren Partien, also an Gesäß und (hinterer Bereich) der Oberschenkel) aus.
M. hatte aber laut Sektionsbefund Leichenflecken lediglich am Rücken.
Selbst wenn M. innerhalb der ersten 6 -12 Stunden umgelagert wurde, dann können sich durch die Umlagerung zwar Leichenflecken am Rücken bilden , a b e r die Leichenflecken an Gesäß und Oberschenkelhinterseite bleiben (zu einem guten Tei) bestehen. Diese können nicht vollständig in den Rückenbereich “abfließen”, w e i l bei Rückenlage kein (hydrostatisches) Druckgefälle zwischen Gesäß ( bzw. Oberschenkel Unterseite) und Rücken vorhanden ist.
Dieses Druckgefälle gibt es natürlich bei Umlagerung von Bauch-auf Rückenlage oder von Rückenlage auf Bauchlage, innerhab der ersten 6 Stunden mit möglicher sog. kompletter Umlagerung von Totenflecken und innerhalb von 6-12 Stunden mit sog. “partieller Umlagerung” von Totenflecken, wie die Frau Prof. da (schlitzorig und korrekt) referiert.
Es gibt noch eine weitere Auffälligkeit.
Im “Blättchen” zeigt Gabriele Muthesius die “Erklärungsversuche” vom Mundlos’ ersten Obduzenten, Dr. Reinhard Heiderstädt:
„Vors. Abg. Marx:
[…] die Frage ist und das ist ja die Hypothese, dass einer den anderen erschossen hat, dann den Brand gelegt hat und sich selbst erschoss – und trotzdem sind kein Ruß und kein Rauchgas in der Lunge?
Dr. Heiderstädt:
Man stößt eben drauf, weil selbstverständlich für gewöhnlich, wenn man Rauchgas einatmet, dann ist auch Rauchgas, wenn man lebt, in den Lungen nachzuweisen, zumindest CO nachzuweisen oder auch Ruß, je nachdem. Das war bei beiden nicht. Das ist eben auffällig. Die Frage ist: Kann man damit ausschließen, dass sie noch gelebt haben bei Brandentstehung? Und das kann man eben nicht ausschließen. Wir finden durchaus in der Literatur 3 bis 10 Prozent – das wankt –, dass man auch Brandleichen hat, die auch nur zulassen, dass sie durch den Brand umgekommen sind, als Todesursache, und kein CO nachgewiesen wurde. Manchmal hat man kein Ruß und CO oder- umgekehrt – CO oder Ruß. Normalerweise hat man beides. Ich wollte nur sagen: Aber dass beides nicht vorhanden ist, weder Ruß noch das andere, ist vorgekommen, wird beschrieben. Das erst einmal als Fakt. Also muss man hier überlegen, ob das auch in Betracht kommt. Warum die jetzt keinen Ruß haben, weiß ich nicht. Da kann ich mir auch nur überlegen, wie das passiert sein könnte, ohne dass das eine endgültige Erklärung sein soll. Aber wenn ich mir vorstelle, dass in dem kleinen Auto ein Brand gesetzt wird […], dass jemand in irgendeinem Bereich einen Brand setzt, CO-Gas ist leichter als Luft, steigt auf; es ist nicht zu vermuten, dass man, wenn man einen kleinen Brandherd erst mal setzt, seinen Kopf – wie auch immer – oder seine Nase über den Brandherd direkt setzt und damit CO einatmet. Man wird sich wahrscheinlich, wenn man einen Brand setzt, mit dem Kopf auch etwas wegbeugen in eine andere Richtung. Das Zweite wäre, wenn es dann brennt, entsteht natürlich Ruß. Aber man wird sich gewohnterweise vielleicht auch nicht gleich über die Brandstelle so bewegen, dass man den Ruß einatmet. Man will ja auch einen freien Blick haben. Der Rauch steigt auf, sammelt sich, davon gehe ich aus, unter der Decke – eigentlich wird er von oben nach unten breiter –, die Hitze und das CO. Wenn man also einen Brand so entstehen lässt, würde man sich selbst möglicherweise in einem Bereich aufhalten, wo jetzt noch nicht so dieser Brand oder CO entstanden ist. Dann kann es natürlich brennen, aber man ist nicht drin. Irgendwann – gut – wird auch der Schuss gesetzt. Es wäre eine reine Hypothese. Früher haben wir alle zu Hause geheizt. Man versucht ja doch dem Rauch auch auszuweichen. Wenn sich natürlich der Raum gefüllt hat mit Rauch und auch mit CO, dann kann ich Ihnen das nicht erklären. Allerdings gibt es wiederum in der Literatur Fälle, wo man sagt, der Raum war voll Rauch und muss auch voll CO gewesen sein und trotzdem kein CO und kein Ruß festgestellt. Es ist schwer, aber denkbar ist es.“[96]
Bei zwischen drei und zehn Prozent aller Fälle also, bei denen Menschen an Brandherden zu Tode kommen, sei forensisch kein erhöhter CO-Hb-Wert im Blut und kein Ruß in den Atemwegen nachweisbar – so die Literatur laut Heiderstädt. Dieses Phänomen stellt demzufolge einen seltenen Ausnahmetatbestand dar, der in 90 bis 97 Prozent aller Fälle nicht auftritt.
Für die Ausnahmefälle allerdings ist Heiderstädts Mitteilung an den Ausschuss missverständlich, denn unter die verbleibenden drei bis zehn Prozent sind unter anderem auch Fälle subsummiert, die extremer Voraussetzungen bedürfen, sodass sie für eine Wahrscheinlichkeitsbewertung im Falle Mundlos unzutreffend sind. Das betrifft zum Beispiel den „Tod durch perakuten Verbrennungsschock […], wenn […] zwischen Brandbeginn und Todeseintritt eine sehr kurze Zeitspanne lag“.[97] Dabei versterben die Betroffenen direkt mit Ereigniseintritt – durch ein plötzliches, häufig expIosionsartig auftretendes Brandgeschehen mit extremer Hitzeentwicklung, das unmittelbar zu großflächigen Verbrennungen der Körperoberfläche sowie zum Einatmen heißer, meist auch toxischer Brandgase und – in deren Folge – zu gleichzeitigen Verbrennungen im Bereich der Atemwege führt.[98] Bei einer Untersuchung von 202 Brandleichen betrug der Anteil solcher Fälle immerhin knapp acht Prozent.[99] Gemeinsames Merkmal: „Trotz offensichtlich vitaler Verbrennung lag weder eine Rußaspiration noch ein wesentlich erhöhter CO-Hb-Spiegel im Leichenblut vor.“[100] Wegen des augenblicklich eintretenden Todes war es zu keiner nachweisbaren Einatmung mehr gekommen.
Zurück zur Erklärung Heiderstädts: Sein Bemühen, auch für Mundlos einen möglichen Ausnahmetatbestand zu beschreiben, ist wohl eher als vom „gesunden Menschenverstand“ geprägt („Früher haben wir alle zu Hause geheizt.“) zu bewerten, denn als wissenschaftlich fundierte Expertise – das schwante ihm offenbar auch selbst; sein Fazit „schwer, aber denkbar“ legt dies zumindest nahe.
Von Gabriele Muthesius’ vielen guten Artikeln im Blättchen sticht in Sachen Todeszeitpunkt der vom 5.9.16 hervor („Besenrein“ – oder: „Wie viel Staat steckt im NSU?“),
http://das-blaettchen.de/2016/09/%E2%80%9Ebesenrein%E2%80%9C-%E2%80%93-oder-%E2%80%9Ewie-viel-staat-steckt-im-nsu%E2%80%9C-37111.html :
„Ausgerechnet zur entscheidenden Todeszeitpunktfrage überraschte Katharina König bei der Podiumsveranstaltung im Grünen Salon das Auditorium dann aber doch noch mit einem Paukenschlag: Der Thüringer Ausschuss verfüge neben den Obduktionsbefunden über ein weiteres ‘offizielles, von der Gerichtsmedizin ausgestelltes Schreiben, nämlich dass der Todeszeitpunkt von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt am Freitag, am Freitagvormittag, im Zeitraum circa acht bis elf Uhr stattgefunden hat. […] Freitagvormittag, ich glaube, acht bis elf steht drinne […].’ Das korrigierte sie zwar kurz darauf, wobei sie implizit ihre konkrete Zeitangabe zurücknahm: ‘Entschuldigung, das war jetzt mein Fehler. Freitagvormittag […].’ Aber auch der Vormittag endet um 12:00 Uhr mittags. Steht damit also fest, dass Mundlos und Böhnhardt bereits tot waren, als die Streifenpolizisten um 12:05 Uhr am Camper eintrafen?“
Versehentlich konnte eine problembewusste Insiderin wie König so ein Schreiben nicht einfach erfunden haben – hat die Gerichtsmedizin also mehr herausgefunden und aktenkundig gemacht als wir wissen dürfen?
Oder hilft Katharina König absichtlich bei der Auslegung von roten Heringen und ggf. mit welcher Absicht?