Die Beendigung des NSU-Untersuchungsausschusses in Berlin und die Eröffnung des NSU-Prozesses in München stehen in direktem Zusammenhang. Zeitlich, aber vor allem politisch.
6. Mai 2013: Beginn des Prozesses gegen Beate Zschäpe, Ralf Wohlleben und die drei anderen Angeklagten vor dem Oberlandesgericht München. Draußen vor dem Justizzentrum in München bewegen sich seit dem frühen Morgen hunderte von Menschen. Es wird live übertragen. Und es wird demonstriert – nicht nur gegen den Mordterror des rechtsradikalen NSU, sondern auch gegen den amtlichen Umgang mit dem Komplex. Dazu zählt der viel zu kleine Gerichtssaal, der nur 100 Zuschauern und Journalisten Platz bietet. Die Hauptverhandlung war um drei Wochen verschoben worden. Als Hausordnung verfügte das OLG unter anderem:
„Das Lagern und Campieren auf dem Gelände des Strafjustizzentrums ist verboten. – Es ist untersagt: Waffen, gefährliche Gegenstände, die als Waffen oder Wurfgeschosse Verwendung finden könnten, mitzuführen; Flaschen sowie Trinkbehältnisse aus Glas mitzubringen; Klappstühle oder Leitern mitzubringen; Trillerpfeifen oder Megaphone mitzubringen“ – usw.
Eine Justiz verliert unter dem öffentlichen Ansturm Überblick und Maßstäbe.
Der NSU-Prozess soll rechtsstaatliche Normalität demonstrieren – das war der Plan.
Der unappetitliche NSU-Komplex soll beendet und begraben werden, indem man ihn juristisch abschließt. Der Prozess ist somit politisch intendiert. Dafür musste der NSU-Untersuchungsausschuss in Berlin die Bühne verlassen. Er wäre eine Art Parallelprozess gewesen und eine Belastung für die Hauptverhandlung. Denn Verstrickungen staatlicher Akteure und Instanzen, zum Beispiel durch V-Leute, die der Ausschuss auftragsgemäß hätte beleuchten sollen, hätten die Inszenierung von München gestört.
Seit das Verfahren läuft, lässt sich interessanterweise die umgekehrte Beobachtung machen: Forderungen nach Einrichtung weiterer NSU-Untersuchungsausschüsse, etwa in Baden-Württemberg, Hessen oder Nordrhein-Westfalen, werden stets aufs Neue mit Hinweis auf den Münchner Prozess abgelehnt. Dort finde die Aufklärung ja jetzt statt, heißt es.
Normalerweise ist es so: Ein Verbrechen wird zuende ermittelt, dann werden die Beschuldigten angeklagt, und dann prüft ein Gericht deren Schuld. Nicht weniger und nicht mehr. Hier, in diesem großen historischen Rechtsterrorismus-Prozess, ist es anders. Die Ermittlungen sind in vollem Gange, immer neue werden nötig. Und dennoch wird gegen fünf Angeklagte zu Gericht gesessen: Beate Zschäpe (wg. Mittäterschaft), Ralf Wohlleben, André Eminger, Carsten Schultze und Holger Gerlach (alle wg. Beihilfe). Ermittlung und Wahrheitsfindung nebeneinander – das ist einmalig.
Die Bundesanwaltschaft (BAW), die oberste Anklagebehörde der Bundesrepublik, hat mehrere Festlegungen getroffen: Für die zehn Morde, die zwei Bombenanschläge und 15 Raubüberfälle waren ausschließlich Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos verantwortlich. Beate Zschäpe half mit. – Nur diese drei bildeten den „Nationalsozialistischer Untergrund“. – Der hat sich aufgelöst. – Alle Taten sind aufgeklärt. Schließlich behauptet der Generalbundesanwalt, ein „klares Bild der Entwicklung, Struktur und der Straftaten im NSU-Komplex zu haben“. Er wird bald eines Besseren belehrt. So enthüllt der Angeklagte Schultze vor Gericht, dass das Terrortrio 1999 in Nürnberg eine weitere Sprengfalle gelegt haben soll. Die Ankläger müssen zugeben, dass auch ihnen das neu ist.
Die tendenziöse Anklagekonstruktion prallt auf die Interessen der Opferfamilien.
Sie wollen mehr wissen. Warum wurden ihre Angehörigen ermordet? Von wem? Warum wurden die Täter nie gefasst? Laufen Täter noch frei herum? Und immer wieder: Welche Rolle spielte der Verfassungsschutz (VS) bei den NSU-Morden? Sie formulieren es, wie beispielsweise die Anwältin Edith Lunnebach an einem der ersten Prozesstage:
„Die Behauptung, es sei das Trio allein gewesen, ist bisher nur eine These der Bundesanwaltschaft. Wir gehen von einem größeren Zusammenhang, einer gefährlicheren Gruppe, inklusive V-Leuten aus. Darüber muss hier verhandelt werden.“
Nicht, wie üblich, der Konflikt zwischen Verteidigung und Anklage bestimmt diesen Prozess, sondern bemerkenswerterweise der zwischen Nebenklage und Anklage.
Die Opferfamilien und ihre Anwälte versuchen, in München die Hintergründe der Mordserie aufzuklären. Sie machen den Prozess tendenziell zum Untersuchungsausschuss.
Keine Strafprozessordnung kann das dauerhaft verhindern. Als Anfang Juni 2013 mit der Vernehmung des aussagebereiten Angeklagten Carsten Schultze in die Beweisaufnahme eingestiegen werden soll, stellen mehrere Opferanwälte einen grundlegenden Antrag:
„Das Gericht möge feststellen, ob sich Prozessbeobachter von BKA, Landeskriminalämtern, Bundesamt für Verfassungsschutz, Landesämtern für Verfassungsschutz und MAD im Saal befinden.
Gegebenenfalls sollten sie für die Dauer der Beweisaufnahme ausgeschlossen werden. Gründe: Bei den genannten Behörden gibt es Personen, die als Zeugen in Betracht kommen und dann wäre eine Prozessbeeinflussung zu befürchten. Beispielsweise kommt beim LKA Berlin ein V-Mann, der Kontakt zum Trio hatte, als Zeuge in Frage.“
Der Vorsitzender Richter Manfred Götzl fragt die Zuhörer auf der Tribüne, ob sich unter ihnen Vertreter der genannten Ämter befinden.
Es gibt Gelächter. Niemand meldet sich. Eine Rechtsanwältin der Nebenklage fragt, ob man ihnen, die unter der Tribüne ihren Platz und damit keinen Sichtkontakt haben, mittels Videoübertragung das Publikum zeigen könne:
„Vielleicht können wir ja jemanden outen.“
Richter Götzl befindet:
„Für heute haben sich die Anträge erledigt. Es hat sich niemand im Publikum gemeldet.“
Anja Sturm, die Verteidigerin von Zschäpe, wirft ein:
„Aber vielleicht haben die Behördenvertreter keine Genehmigung, sich hier zu erkennen zu geben.“
Götzl unterbricht und verkündet eine halbe Stunde später: Der Antrag, Vertreter von Kriminalämtern und Nachrichtendiensten für die Dauer der Hauptverhandlung auszuschließen, wird abgelehnt.
Was sich streckenweise liest, wie eine Szene aus dem königlich-bayrischen Amtsgericht, berührt in Wahrheit einen Nerv des Verfahrens – der ungeklärte Verfassungsschutzhintergrund.
Ende Teil 1
Ein Gedanke zu „Inszenierung von Rechtsstaat – Ein Jahr NSU-Prozess, Teil 1“