Am 28. Juni 2021 veröffentlichte “correctiv” einen Artikel von Sebastian Leber über den Kiesewetter-Mordfall. Einerseits informierte Leber über fehlende DNA-Funde des “NSU-Trios” sowie Kontakte zu Rockergruppen und der organisierten Kriminalität, andererseits hält er aber an der Hypothese fest, bei es sich bei der Tatmotivation um Rechtsterrorismus gehandelt hätte.
So kritisierte Leber die behördliche Darstellung, es hätte „keine Anhaltspunkte für strafrechtlich relevante Verbindungen“ zwischen den Terroristen und dem Rockermilieu ergeben.” Gleichzeitig hinterfragte er nicht, ob die Tatmotivation sich aus der organisierten Kriminalität ergeben könnte. Dann wäre das NSU-Trio keine “Terroristen” gewesen sondern Mitglieder einer schwerkriminellen Organisation.
Dieses Vorgehen von Leber untersuchte ich bereits, festgemacht am Abschlussbericht des nordrhein-westfälischen NSU-Untersuchungsausschusses. Damals kritisierte ich die Abgeordneten in dem Artikel “NRW-Parlamentarier auf der Jagd nach dem NSU-Netzwerk” am 07. April 2017: Einerseits glaubten auch die Parlamentarier nicht an lediglich drei Rechtsterroristen, anderseits hielten sie an der Tatmotivation “Rechtsterrorismus” fest, konnten aber gleichzeitig trotz großer Anstrengungen keine Hinweise auf andere Rechtsterroristen ausfindig machen:
“So werden einerseits die Aussagen des polizeilichen Staatsschutzes und des Geheimdienstes angezweifelt, es würden keine konkreten Hinweise auf eine rechtsextremistisch motivierte Tat geben, andererseits liefern die Parlamentarier selber keine eigenen einschlägigen Ermittlungsergebnisse, trotz intensiver Nachforschungen: Auf mehreren hundert Seiten beschreibt der Bericht verschiedene rechtsextremistische Gruppen, Hinweise auf Aufenthalte des „NSU-Trios“ in NRW, Aussagen von Informanten, mögliche Tatortauswahl nach in der Nähe umgekommener „NSDAP-Blutzeugen“ oder ob die Tatorte, in einer Karte eingezeichnet und mit einer Linie verbunden, geografisch ein „NSU-Logo“ ergeben.
Paradoxerweise lehnt der Ausschuss gleichzeitig die von den Ermittlern bis zur „Selbstenttarnung“ favorisierte sogenannte „Organisationstheorie“ ab. Sie besagt, dass hinter den Morden eine Organisation steht. Hintergrund dieser Theorie war, dass sämtliche Opfer der Mordserie vor ihrer Erschießung bedroht wurden, meistens ging es dabei um Geldforderungen.”
Sebastian Leber arbeitet beim Berliner Tagesspiegel und erhielt 2020 den Journalistenpreis „Der lange Atem“ für die „langjährige Berichterstattung über Verschwörungsgläubige und Reichsbürger“.
Momentan arbeitet er sich u.a. an Ken Jebsen ab und wundert sich mit seinesgleichen darüber, „wie frühzeitig Ken Jebsen verschwörungsideologische Inhalte verbreitet habe, nämlich bereits im Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk“ (gemeint ist 2001, als Jebsen kritisch über 9/11 berichtete).
https://www.tagesspiegel.de/kultur/karriere-als-verschwoerungsideologe-eine-tragoedie-namens-ken-jebsen/27278790.html
https://www.tagesspiegel.de/themen/reportage/biografien-von-verschwoerungsideologen-erst-friedensaktivist-jetzt-corona-verharmloser/27064482.html
Zusammen mit einem Autor eines „Aufklärungs-Podcasts“ zu Jebsen wundert Leber sich zudem, dass Jebsen damals „niemand gestoppt“ habe: „Er ist wohl einige Zeit unter dem Radar geflogen“. Die beiden übersehen großzügig, dass auch ein Alt-Linker wie TAZ-Mitgründer Mathias Bröckers ab 2001 äußerst Kritisches zu 9/11 veröffentlichte und die (giftigen, aber im Vergleich zu heute noch sehr niedrig dosierten) Anfeindungen der transatlantischen Wahrheitswächter auf sich zog.
Dass Jebsen beim RBB rausflog, ist für Leber wohl so selbsterklärend, dass er lästige Details zu den Gründen (vorgeschobene haltlose Antisemitismus-Vorwürfe) nicht für erwähnenswert hält. Zeitlich wurde Jebsen ausgerechnet im November 2011 rausgemobbt, zwischen der dubiosen „Selbstenttarnung des NSU“ und der „Kanoniserung“ der frisch gebackenen NSU-Legende durch den Bundestag wenige Wochen später.
Für Heiligsprechungen (und manchmal auch für ihr Gegenteil, die Indizierung von Büchern und Autoren) braucht der Vatikan bekanntlich meist Jahrzehnte – in der Berliner Republik hatte man es dagegen im November 2011 anscheinend sehr eilig mit einigen wichtigen Weichenstellungen. Aber hinter solchen Gedanken wittert ein Sebastian Leber bestimmt schon wieder den nächsten Verschwörungsglauben.
Bei der „Analyse“ von Jebsens Corona-„Denkmustern“ und deren Vorläufern darf der Maidan-Putsch in der Ukraine nicht fehlen. Dieser war 2014 bekanntlich von den USA mit 5 Mrd. Dollar finanziert worden (was der Welt niemand Geringerer verriet als Hillary Clintons Stellvertreterin, die US-Außenpolitikerin Victoria „Fuck EU“ Nuland).
Für Sebastian Leber natürlich alles Verschwörungs-Ideologie wie auch Jebsens Befürchtung vom Sommer 2014 (zu den ersichtlich wenig friedlichen Ambitionen des Westens): „Wir bewegen uns mit Riesenschritten auf die Vorbereitung eines Dritten Weltkriegs zu!“
Dass zur Ukraine wiederum auch ein Alt-Linker wie Mathias Bröckers und sogar die (Late-Night-)Satiresendung „Die Anstalt“ im biederen ZDF sich ganz ähnlich äußerten (letztere aber in Sachen Corona dann einen ganz anderen Weg beschritt als Jebsen oder Bröckers), ist für Leber natürlich kein Thema. Die faktenfreie Ausgrenzung funktioniert nämlich dann am besten, wenn man sich ein einzelnes Opfer krallt und sich ausschließlich daran festbeißt.
Jebsens hyperaktive Emotionalität macht seinen Gegnern ihr Spiel allerdings auch unnötig leicht – im Vergleich dazu ist Mathias Bröckers ein zwar nicht minder scharfzüngiger Autor, aber halt ein in sich ruhender Profi, dem seine Gegner nur schlecht beikommen.
Dass Leber ergebnisoffen recherchiert und dann das offizielle Heilbronn-Narrativ in Frage stellt, ist nicht zu erwarten.
Wer seine Brötchen damit verdient, überall Verschwörungs-Glauben zu sehen und anzuprangern, wo kritische Fragen ans offizielle Narrativ gestellt werden, der hat die roten Linien bestens verinnerlicht, die die Grundlagen seines Broterwerbs und seiner Karriere sind.
Das hoch-amtliche NSU Narrativ (Es gibt keine NSU-Mörder außerhalb des BMZ-Trios) ist absurd und Medien wie auch die Politiker in den Ausschüssen sind sich da völlig einig.
Man müsste also irgendwie und irgendwann nach weiteren Nazis suchen; angesichts mauernder Sicherheitsbehörden will sich das aber niemand so richtig reinziehen – so könnte man das halb-amtliche Zusatz-Narrativ zusammenfassen.
Wenn die Propagandisten ihr Zusatz-Narrativ aber nur halbwegs ernst nehmen würden, dann müsste es (vor oder wenigstens neben gefälligen Such-nach-Nazis-Aufrufen) erst mal energische Forderungen nach weiteren (NSU-)Anklagen geben, wie das für Thomas Starke & Co. ja angeblich mal geplant war.
Und Leute wie Sebastian Leber könnten Verschwörungs-Legenden vorbeugen, indem sie die Rolle von Temme beleuchten. Das wird bestimmt nicht einfach, aber „echte“ Journalisten wie Gaby Weber haben Ausdauer beim Einfordern amtlicher Belege bewiesen.
Gaby Webers Arbeit ist anstrengender als bei Correctiv ein Aufsätzchen über „das Ausmaß und die Komplexität des rechten Terrors“ abzuliefern.