Zeit ist (gleich) Liebe – diesen wunderbaren Worten möchte ich eine andere, im Berufs- und Alltagsleben sehr gängige, oft gebrauchte Redewendung – ebenfalls drei Worte – gegenüberstellen:
„Zeit ist Geld.“
Diese längst moderne Erkenntnis ist in ihrer Gesinnung und Wirkung besonders für Jugendliche und junge Menschen ausgesprochen gefährlich, den Idealismus zerstörend und für die Ausübung jeglicher Art von Nächstenliebe demotivierend. Sie fordert geradezu zum Egoismus, zur Rücksichtslosigkeit, zu einer legalisierten Lieblosigkeit auf. Wenn es nur mehr darum geht, Zeit für den Erwerb von Vermögen, Luxusgütern, Einfluss, Macht, Ruhm und Ehre zu verwenden, nehmen die seelisch-geistige Verarmung und Lieblosigkeit rapide zu und der Glaube an das Gute im Menschen und in der Welt im gleichen Maße ab.
Niemand bestreitet den Aufwand an Zeit für Beruf, Familie und den sonstigen Lebensunterhalt. Auch darüber hinaus gibt es Aufgaben, deren Erledigung Zeit in Anspruch nimmt. Doch ein hoher Lebensstandard, hohe materielle Erwartungen, gehobenes Ansehen und Anerkennung bedingen auch einen höheren Aufwand an Zeit. Es wäre ratsam, im voraus die Vor- und Nachteile eines großzügigen Lebensstils sorgsam abzuwägen und sich zu vergewissern, wohin dieser „Stil“ letztendlich führt. Sehr oft geht es nur darum, mit einem aufwändigen Lebensstil in Luxus und Fülle im Nachbars- oder Kollegenkreis Eindruck zu schinden und Neid hervorzurufen. All dies erfordert eine hohe
finanzielle Energieleistung und folgerichtig einen hohen Zeitaufwand.
Die wenigen Ausnahmen von dieser Regel fallen nicht ins Gewicht. Dabei fällt mir ein kluger Spruch ein (Verfasser mir unbekannt):
„Man soll dem Geld nicht die Bedeutung zumessen, das es in Wirklichkeit hat.“
Menschen, die sich den „oberen Zehntausend“ zugehörig fühlen, messen Geld und sonstigen materiellen Werten viel, viel zu viel Bedeutung zu – so lange, bis sie einst feststellen müssen, dass die erstrebten Werte immer mehr verblassen, bis hin zur Bedeutungslosigkeit. Und schlussendlich kommen auch jene zur allerletzten und traurigsten Erkenntnis, dass das letzte Hemd keine Taschen hat. Daneben führt über kurz oder lang die Überbewertung von materiellem Reichtum zu einem moralischen Niedergang, beginnend mit der kleinsten Einheit, der Familie, bis hin zu Volk und Staat. Begrenzt ist nicht nur unsere Lebenszeit, auch Tag und Nacht haben zusammen nur vierundzwanzig Stunden. Und so muss natürlicherweise die für die äußerlichen Dinge zu viel aufgewendete Zeit irgendwo fehlen. Wenn ein Kinderwunsch immer häufiger am finanziellen Aufwand oder an mangelnder Zeit scheitert, kommt es zwangsweise mittel- bis langfristig zu einer bevölkerungspolitischen Katastrophe. Die Auswirkungen sind alarmierend und unübersehbar. Unser Land hat sich diesbezüglich europaweit zur „Spitzengruppe“ emporgearbeitet.
Die unbedingt notwendige Zeit für sich selbst, die zu innerer Ruhe und Ausgeglichenheit führen soll, wird erheblich eingeschränkt oder entfällt häufig ganz. Das für einen harmonischen Ablauf in den Familien notwendige Sich-Zeit-Widmen entfällt immer öfter. Nehmen wir uns noch Zeit, mit einem Kind zu reden, zu lachen, zu scherzen, einem alten Menschen geduldig zuzuhören, mit den Nachbarn Gedanken auszutauschen? Haben wir noch Zeit, einen handgeschriebenen Brief an jemanden zu senden, der seit langer Zeit sehnlich darauf wartet? Finden wir noch Zeit für tröstende Worte für in Krankheit, Schmerz und Leid lebende Mitmenschen oder beim Tod für die trauernden Hinterbliebenen? Vielleicht ist nur aus dem Zeitgeist heraus zu verstehen, warum sich viele Menschen so verhalten, dass man glauben könnte, sie bräuchten kein Verständnis, keinen Zuspruch von anderen. Sie lassen sich von der bequemeren, keiner Verantwortung fordernden Anonymität gefangen nehmen, die sie nicht zu Dank verpflichtet. Lässt der ausgebuchte Terminkalender überhaupt noch kleine, Zeit beanspruchende Gefälligkeiten in Rat und Tat bei Nachbarn oder im Bekanntenkreis zu? Schneller als man erahnt, ist die ungenutzte Zeit um – und nur in den seltensten Fällen können wir Versäumtes nachholen.
Wir müssen also die Zeit (sprich Liebe) bedingungslos verschenken und auch für uns sinnvoll und wertbeständig nutzen, solange sie uns zur Verfügung steht. In diesem Tun liegt unser Seelenreichtum und Lohn, so wie es uns Marc Aurel in seinen Selbstbetrachtungen, dem in seiner Art einmaligen Buch der Weltliteratur, überliefert hat. Wenn wir unserer Seele nicht genug Zeit und Raum zum Reifen einräumen, dürfen wir nicht überrascht und verwundert sein, wenn nach dem altersbedingten oder sonstigen körperlichen Abbau für die verbleibende Lebenszeit nichts Lebenswertes übrig geblieben ist, und auch nichts Erbauendes mehr zu erwarten ist.
Wenn innen nichts gereift ist und die äußere Hülle verfällt, wird es dunkel. Ergänzend zu meinen Gedanken über die Zeit möchte ich Ihnen einige der achtundzwanzig nachdenkenswerten Aussagen des weisen Königs Salomon aus dem Alten Testament
(Der Prediger Salomo, Kap. 3) ans Herz legen:
„Ein jegliches hat seine Zeit und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: Geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit, weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit, pflanzen hat seine Zeit, ausreißen hat seine Zeit, schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit, klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit, lieben hat seine Zeit.“
Jeder mag sich – so gut er kann und will – seine Gedanken darüber machen, seine Lehren und Erkenntnisse daraus ziehen und in sein Leben einfließen lassen.
Josef Sanftl