Es folgt das Manuskript meiner Rede, die ich in Pforzheim am 23. Februar 2014 gehalten habe:
“Als vor zwei Jahren ein rechtsradikales Terrortrio aufgedeckt wurde, das mindestens zehn Menschen ermordet haben soll, war die große Frage: Wie konnte das geschehen? Wie konnten die Sicherheitsbehörden derart versagen? Am 23. Februar 2012, exakt vor zwei Jahren, versprach die Bundeskanzlerin Aufklärung. Doch was wir seither durch den Exekutivstaat erleben, ist eine unfassbare Verhinderung der Aufklärung.
Denn nach zwei Jahren intensiver Beschäftigung durch mehrere Untersuchungsausschüsse, nach 90 Prozesstagen in München, nach zahllosen Recherchen von Journalisten und Opferanwälten, stellen sich ganz andere, tiefer- und weitergehendere Fragen, auch in eine Richtung, die man nicht für möglich gehalten hätte: Sollten die drei, Böhnhardt, Mundlos, Zschäpe, gar nicht gefasst werden? Waren sie die alleinigen Täter? Wie viele Personen zählten tatsächlich zum NSU? Was waren die Motive für die Anschläge? Gab es Auftraggeber? Warum und wie ist der Verfassungsschutz darin verwickelt? Warum werden Akten vernichtet?
Warum reagiert die Grün-rote Landesregierung geradezu panisch auf die Forderung nach einem Untersuchungsausschuß? Was hat es mit dem „Nationalsozialistischen Untergrund“ in Wahrheit auf sich?
„Mit dem Tod von Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos am 4. November 2011 war die terroristische Vereinigung NSU aufgelöst“ – das schreibt die Bundesanwaltschaft in ihrer Anklageschrift gegen Beate Zschäpe und die vier anderen Angeklagten in München. Jedoch das Gegenteil ist der Fall: der NSU ist nicht aufgelöst. Der Komplex lebt, und wir stecken mittendrin, er vollzieht sich Woche für Woche in dieser Republik und wird immer größer. Die sogenannte Zwickauer Kleinstzelle wächst sich zum Monstrum aus.
Mindestens zehn Morde, ein schwerer Nagelbombenanschlag, zwei Sprengfallen, 15 Raubüberfälle auf Banken, Poststellen und einen Supermarkt. Alles verübt von drei Personen innerhalb von 14 Jahren aus dem Untergrund heraus – das behauptet die Bundesanwaltschaft. Doch, weil wir inzwischen – leider – viel wissen, wissen wir auch, was NSU nicht war. Es war eben nicht ausschließlich dieses Trio, zwei Männer, eine Frau. Die staatliche Institution Bundesanwaltschaft ist Teil des Problemes geworden, zu besichtigen jede Woche im Saal 101 des Oberlandesgerichtes München. Die demokratische Gesellschaft muß sich dringend einmischen.
Der NSU und der Verfassungsschutz – zwei Seiten derselben Medaille.
Böhnhardt, Mundlos, Beate Zschäpe und die Angeklagten Ralf Wohlleben, Holger Gerlach, Carsten Schultze stammen aus Jena. Sie organisierten sich in der „Kameradschaft Jena“ und im Neonazi-Netzwerk „Thüringer Heimatschutz“. Spätestens hier kommt der Verfassungsschutz ins Spiel. Etwa zwei Dutzend Mitglieder des Thüringer Heimatschutzes sind bisher als V-Leute des Verfassungsschutzes bekannt. Monatlich werden es mehr.
Nach dem Sturz der Stasi wurde der neue Geheimdienst in Ostdeutschland vom westdeutschen Verfassungsschutz aufgebaut. Das Führungspersonal in Thüringen kam aus Hessen. Der hessische Verfassungsschutz wiederum ist direkt in den neunten NSU-Mord in Kassel vom April 2006 verwickelt. Sein Beamter Andreas Temme war zur Tatzeit am Tatort, einem Internetcafé. Mehrere Vernehmungen Temmes in München ergaben inzwischen Indizien, daß die kasseler Dienststelle des Landesamtes für Verfassungsschutz mit dem Mord in Verbindung steht. Die Bundesanwaltschaft enthält dem Gericht wesentliche Akten dazu vor. Der Vorsitzende Richter des Staatsschutzsenates akzeptiert das bisher.
Immer deutlicher zeichnet sich eine unheilige Allianz von Rechtsextremisten und Verfassungsschutz ab. Das wirft nebenbei die nicht ganz unwichtige Frage auf: Sind die menschenfeindlichen und gewalttätigen Aktionen das alleinige Werk von Neonazis? Oder trägt eine staatliche Institution dafür eine Mit-Verantwortung? Diese Fragestellung gilt auch für die Verbrechen des NSU. Und sie gilt am heutigen Tage für die rechte Fackelmahnwache auf dem Wartberg. Sind dort V-Leute des Verfassungsschutzes beteiligt?
Der „Nationalsozialistische Untergrund“ entstand nach dem Untertauchen des Trios 1998 in den Jahren der Illegalität. Nebenbei eine ziemlich seltsame Illegalität, die Nachbarschaftsgrillfeste am Wohnort Zwickau, regelmäßige Freundschaftsbesuche, auch in Baden-Württemberg, oder Campingurlaube an der Ostsee einschloss.
Bis zum November 2011 wurden die genannten Taten verübt. Mord Nummer zehn an der Polizeibeamtin Michèle Kiesewetter im April 2007 am helllichten Tag auf der belebten Theresienwiese in Heilbronn ist der rätselhafteste der Serie. Er paßt nicht zu dem Schema der neun anderen Morde an türkischen und griechischen Männern. In Heilbronn wurde nicht die Ceska-Pistole verwendet, sondern andere Waffen. Alle Waffen wurden aber bei dem Trio gefunden. Der Mord von Heilbronn ist deshalb ein Schlüsselfall des gesamten Komplexes.
Die Bundesanwaltschaft sagt: Die Mörder von Kiesewetter waren Böhnhardt und Mundlos – ohne Beteiligung eines Dritten. Die Ermittler beim Landeskriminalamt in Stuttgart dagegen sagen: Die Tat wurde von vier bis sechs Personen begangen. Hinzu kommt: keines der gut ein Dutzend Phantombilder von Heilbronn ähnelt nur im geringsten Mundlos oder Böhnhardt. Die Ermittler kommen außerdem zu dem Schluß, daß zwei Rechtshänder auf die beiden Polizisten geschossen haben. Böhnhardt war Linkshänder. Doch die Ermittler haben keine öffentliche Stimme. Sie sind zum Schweigen verpflichtet. Aber die spezifische Verschwörungstheorie der Bundesanwaltschaft ist nicht mehr länger haltbar.
Seit der Entlarvung der NSU-Gruppe am 4. November 2011 wird nicht mehr rückhaltlos ermittelt. Es geht nur noch darum, die Täterschaft des Trios nachzuweisen – auch um den Preis der Rechtsbeugung. Die Bundesanwaltschaft wollte ein Gutachten in Auftrag geben, das die Ähnlichkeit einiger Phantombilder von Heilbronn mit Böhnhardt und Mundlos belegen sollte. Das nennt man Manipulation.
Im Frühjahr 2012 schrieb die karlsruher Anklagebehörde, sie habe „keine Klarheit über Ablauf der Tat und Anzahl der beteiligten Personen“ in Heilbronn. Doch diese Einschätzung blieb intern. Öffentlich behauptet die Bundesanwaltschaft das Gegenteil. Das nennt man Täuschung der Öffentlichkeit und des Gerichtes.
Die Absicht ist klar: Man will nicht rückhaltlos ermitteln, weil man dann auch in Richtung Verfassungsschutz ermitteln müßte. Auch in Baden-Württemberg. Spätestens seit 2003 stand das Landesamt für Verfassungsschutz in Stuttgart über einen Informanten in Kontakt zum NSU. Das kam im NSU-Untersuchungsausschuß des Bundestages heraus. Das LfV kannte die Abkürzung „NSU“ und mindestens die Namen „Mundlos“, “Zschäpe“ und „Wohlleben“.
Das LfV war auch über den deutschen Zweig des rassistischen Geheimbundes Ku-Klux-Klan informiert, der 2000 in Schwäbisch Hall nämlich durch einen eigenen V-Mann gegründet worden war. Zugleich war ein V-Mann des Bundesamtes für Verfassungsschutz Mitglied des KKK. Dessen Name wiederum stand auf der berühmten Garagenliste von Uwe Mundlos. Mehrere Mitglieder des Ku-Klux-Klans waren Polizeibeamte aus Baden-Württemberg. Zwei gehörten zu der Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit in Böblingen, zu der auch Michèle Kiesewetter und ihr Kollege, der das Attentat in Heilbronn überlebte, gehörten.
Der KKK ist ein Bindeglied zwischen dem Heilbronn-Mord und dem NSU – und damit ist der Verfassungsschutz selber dieses Bindeglied.
Die zahlreichen Spuren ostdeutscher Rechtsextremisten in Baden-Württemberg führen unter anderem nach Ludwigsburg, Neudenau, Laupheim, Ilshofen oder Hardthausen nördlich von Heilbronn. Dort besaß der thüringer Neonazi und V-Mann Tino Brandt, der das Trio sehr gut kannte, vier Jahre lang ein Haus. In diesen Zeitraum fiel der Polizistenmord von Heilbronn. In Besigheim sitzt Jan Werner, ein früherer führender Aktivist der Neonazi-Organisation Blood&Honour in Sachsen, der Kontakt zum Trio hatte und Glied in der Waffenbeschaffungskette war. In Aspach: Andreas Graupner, ebenfalls Rechtsextremist aus Sachsen und Vertrauter des Trios.
Aus Öhringen stammt die Rechtsanwältin Nicole Schneiders, die in München Ralf Wohlleben verteidigt. Sie studierte in Jena und war dort, wie Wohlleben, Mitglied im Vorstand der NPD.
Und was sagen uns die politisch Verantwortlichen? Vor wenigen Tagen hat Innenminister Reinhold Gall den Bericht der Ermittlungsgruppe Umfeld vorgestellt, die ein Jahr lang nach NSU-Spuren in Baden-Württemberg forschen sollte. Das Ergebnis ist – kurz gesagt – eine Frechheit: „Keine Hinweise auf das Trio. – NSU war nur das Trio, niemand sonst. – Keine Unterstützer in Baden-Württemberg. – Ausschließlich Böhnhardt und Mundlos die Attentäter von Heilbronn. – Kiesewetter und ihr Kollege reine Zufallsopfer. – Kein direkter Bezug von Ku-Klux-Klan zum NSU.“ Und so weiter. Das Land folgt damit rücksichtslos den tendenziösen Vorgaben der Bundesanwaltschaft. Und verweigert die Suche nach weiteren Tätern. Das nennt man Strafvereitelung im Amt. Der Innenminister leistet einen Beitrag, die manifeste Verquickung von Rechtsextremisten und Verfassungsschutz, von Verfassungsschutz und Rechtsextremisten, zu verdunkeln.
Bleiben wir bei den NSU-Aktivisten. Zum Beispiel Ralf Wohlleben, angeklagt in München: Sein Name soll auf einer Liste des Bundesamtes für Verfassungsschutz über V-Leute in NPD-Vorständen gestanden haben. Zeuge dieser Aussage war niemand anderes als ein leibhaftiger Bundesanwalt aus Karlsruhe. Die Personalie Wohlleben ist brisant: Denn ein Angeklagter, ein NSU-Komplize, der V-Mann war – das könnte das Verfahren in München sprengen. Der Grat ist schmal, auf dem das Oberlandesgericht wandelt. Manche Beobachter zweifeln bereits, ob die Hauptverhandlung ordentlich zu Ende geführt werden kann.
Das Trio aus Jena war immer umstellt von V-Leuten. Es floh 1998 nach Chemnitz zu einem rechtsradikalen Aktivisten der Blood&Honour-Organisation, der sicher ab 2000 V-Mann des Landeskriminalamtes Berlin war. Vor kurzem gab es im Untersuchungsausschuß in Sachsen einen Hinweis darauf, daß der Mann – Thomas Starke – schon vor 2000 als V-Mann geführt wurde. Ist das Trio also zu einem V-Mann geflohen? Nicht irgendwelche weltfremden Phantasierer, sondern seriöse Kriminalbeamte aus Thüringen vertreten bis heute die Auffassung, der Verfassungsschutz habe die Untergetauchten geschützt und unterstützt.
Wir müssen also das Unmögliche denken: Bestand das Trio selber aus V-Leuten? Vor dem Untersuchungsausschuß in Berlin erklärte ein Quellenführer, daß Beate Zschäpe vom thüringer Verfassungsschutz angeworben werden sollte. Man habe dann aber darauf verzichtet. Warum das so gewesen sein soll, bleibt unklar.
Uwe Mundlos: Der Militärischer Abschirmdienst, der Nachrichtendienst der Bundeswehr, wollte ihn während seinem Wehrdienst für eine Mitarbeit rekrutieren. Die Akte ist vernichtet. Doch die Eltern Mundlos selber gehen davon aus, daß ihr Sohn ein Geheimdienst-Informant war.
V-Leute, die morden – um diese Dimension geht es. Und sie erklärt vielleicht, was nun seit dem November 2011 geschieht: Sicherheits- und Ermittlungsbehörden vertuschen in großem Stil die Hintergründe des NSU-Mordkomplexes. Hundertfach wurden Akten vernichtet, Akten wurden manipuliert, falsche Zeugen wurden in den Untersuchungsausschuß geschickt, Heerscharen von Zeugen leiden unter Gedächtnisverlust. Eine ganze Schicht staatlicher Funktionsträger unterschlägt ihr Wissen gegenüber der Demokratie: Verfassungsschützer, Polizeibeamte, Staatsanwälte, ihre jeweiligen Pressesprecher. Jeder an seinem Platz und in seiner Funktion wirkt an diesem Vertuschungssystem mit. Keine Verschwörung, eher eine Form von Systemkomplizenschaft. Und während die kritische Öffentlichkeit mühselig Bruchstückchen für Bruchstückchen an die Oberfläche zerrt, gibt es Beamte in dieser Republik, die genau wissen, wie es war. „Das beste Deutschland, das wir jemals hatten?“
Der asoziale Rechtsextremismus kommt aus der Mitte der Gesellschaft – aber auch die aufgeklärte, bunte, demokratische, tolerante Zivilgesellschaft kommt aus der Mitte. Und diese Gesellschaft ist größer. Das soll man sehen und hören dürfen. Auch in Sicht- und Hörweite der Gegner der Demokratie. Die sollen spüren, daß sie eine Minderheit sind. Die sollen merken, daß man sie erkennt. Die sollen anfangen, sich unwohl zu fühlen. Die demokratischen Gegenkräfte haben das Recht auf freie Entfaltung – ohne polizeiliche Einkesselung, ohne Platzverweise und erkennungsdienstliche Behandlungen.
Heute ist Pforzheim wieder voll von Polizeibeamten, die im besten Falle eine demokratische Kundgebung schützen – und im schlechtesten sie unterdrücken. Vor sieben Jahren, am 23. Februar 2007, war Michèle Kiesewetter auch hier in Pforzheim eingesetzt. Auch damals gab es einen rechten Aufmarsch und eine Gegenkundgebung. Zwei Monate später wurde die junge Polizeibeamtin in Heilbronn erschossen. Bis heute wissen wir nicht, von wem und warum.
Ich wende mich an die eingesetzten Polizeibeamten und an die Polizeiführung: Realisieren Sie, daß die Teilnehmer dieser Demonstration hier zusammengekommen sind, auch weil sie wollen, daß der Anschlag auf die beiden Polizeibeamten in Heilbronn, Ihre Kollegen, aufgeklärt wird! Garantieren Sie das freie Demonstrationsrecht – an jedem Ort zu jeder Zeit!
Ich wende mich an die Ermittler: Widersprechen Sie öffentlich den falschen Behauptungen der Bundesanwaltschaft und des Innenministers, die Täter von Heilbronn stünden fest! Verweigern Sie den wahrheits- und rechtsstaatswidrigen Schweigezwang! Fordern Sie die Fortsetzung rückhaltloser Ermittlungen!
Ich wende mich an die Abgeordneten in diesem Land: Geben Sie sich keiner blinden und tauben Loyalität der Landesregierung hin! Ihre erste Verantwortung gilt Ihren Wählern, sie sind Ihre Auftraggeber! Stellen Sie sich der Dramatik des NSU-Komplexes und üben Sie als Parlament Kontrolle gegenüber der Exekutive aus! Setzen Sie, am besten parteiübergreifend, einen Untersuchungsausschuß ein!
Das „Monstrum NSU“ gehört dringend auf die politische Ebene zurück und in die maximale Öffentlichkeit.
Danke,
die Fragen sind klar formuliert. Wenn darauf keine Antwort oder reaktion kommt, ist das ein Eingeständnis.
Es wird höchste Zeit…
Das ist das beste, kurz und prägnanteste und gleichzeitig trotzdem umfassendste, was ich bisher über dieses Thema gelesen habe. Ich wohne in einem der Nachbarorte der getöteten Polizistin Kiesewetter. Als ich damals die ersten Meldungen las war einer meiner ersten Gedanken: “Das ist nicht alles – da kommt noch mehr!”. Und ich hoffe, es kommt mehr – es kommt alles. Bitte!
Vielen Dank für die klaren Worte! Die symbiotische Beziehung der Dienste zu “ihren” Neonazis ist ja in Thüringen offensichtlich und exemplarisch. An erster Stelle ist hier natürlich Tino Brandt zu nennen, den der LfVT gebremst haben will. Aber auch die anderen wie Wohlleben, Mundlos und Böhnhardt müssen Mitwisser gewesen sein und haben den Umgang mit dem LfV als Teil ihrer Strategie betrachtet. Hat hier jemand mit neuen Quellen ausgebreitet:
https://nsuquellen.wordpress.com/2014/02/20/ralf-wohlleben-tino-brandt-und-der-thuringer-verfassungsschutz/