Inszenierung von Rechtsstaat – Ein Jahr NSU-Prozess, Teil 2

Die Bundesanwaltschaft, aber auch der vorsitzende Richter, versucht immer wieder, die Initiativen der Nebenkläger abzublocken und ihren Spielraum einzuengen.

Anträge werden abgelehnt, Fragen nicht zugelassen. Die beiden wesentlichen Argumente der Anklagevertreter sind: „Beschleunigungsgebot“ und „keine Relevanz für die Schuldfrage der fünf Angeklagten“.

Vorgebracht wird das immer wieder in Form von Verbalkeulen gegenüber Nebenklageanwälten. Als mehrere Opferanwälte den früheren Mordermittler Josef Wilfing aus München kritisch nach seinen erfolglosen Ermittlungen befragen, geht Bundesanwalt Herbert Diemer dazwischen:

„Diese Fragen haben mit dem Gegenstand nichts zu tun. Die Täter waren Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, angeklagt ist Beate Zschäpe! Hier geht es um diese fünf Angeklagten. Nebenkläger sind gehalten, Fragen in dieser Richtung zu stellen!“

Nebenklageanwalt Stephan Lucas antwortet:

„In der Hauptverhandlung muss geklärt werden, wie die Opferauswahl erfolgte. Wir appellieren an die Bundesanwaltschaft, nicht jedes Mal von neuem, dieselbe Diskussion loszutreten. Es würde Ihnen gut zu Gesicht stehen, Fragen, die Ermittlungspannen aufzudecken helfen, nicht ständig zu beanstanden.“

Bundesanwalt Diemer:

„Was Ermittlungsbehörden heute über ihre damaligen Ermittlungsansätze denken, hat für das Verfahren keine Bedeutung. Wir werden die Fragen weiterhin beanstanden. Ich appelliere an den Senat, im Interesse der Beschleunigung des Verfahrens solche Fragen nicht zuzulassen.“

Gegen die so bezeichneten „Untersuchungsausschussfragen“ zieht die BAW die Begründungen „Beschleunigungsgebot“ und „fehlende Relevanz“ immer wieder wie Jokerkarten. Doch das Mittel nutzt sich ab. Der Hinweis auf ein allgemeines Beschleunigungsgebot erledigt sich von selbst. Denn bei einem Mordprozess, an dessen Ende Menschen für immer eingesperrt werden könnten, zählt nicht Schnelligkeit, sondern Gründlichkeit. Der Hinweis auf fehlende Relevanz wiederum ist relativ. Relevanz hängt nicht davon ab, ob ein Bundesanwalt sie attestiert oder verneint. Längst legt die kritische Öffentlichkeit eigene Maßstäbe an. Denn die offizielle Zwei-Täter-Theorie kann den monströsen NSU-Komplex immer weniger erklären.

Es sieht danach aus, dass die Nebenkläger diese permanente Auseinandersetzung zumindest nicht verlieren werden. Sie haben sich wiederholt behauptet und lassen sich in ihren Initiativen nicht mehr grundsätzlich aufhalten. Gleichwohl haben Anklage und Senat besondere Rechte: Sie können Akten zurückhalten und Zeugen verweigern – und tun dies auch.

Doch die zunehmende Stärke der Nebenkläger verändert den Prozess. Das beginnt damit, dass der vorsitzende Richter Zeugen inzwischen anders befragen muss, länger, gründlicher, zwingender. Er weiß, tut er es nicht, tun es die Nebenklage-Anwälte. Das quasi industrielle Zeitmanagement, mit dem Götzl den Prozess durchziehen wollte, ist gescheitert. Oft sah er für Zeugen gerade mal eine halbe Stunde vor – dann wurde ein ganzer Tag daraus. Über die Dauer des Verfahrens kann so kaum noch eine Vorhersage getroffen werden. Vor allem aber: Durch die intensiveren Befragungen der Zeugen hat der Prozess inzwischen tatsächlich handfeste Erkenntnisgewinne hervorgebracht – nicht unbedingt im Sinne der Anklage, aber im Sinne der Aufklärung, was sich hinter dem NSU tatsächlich verbirgt. Bestes Beispiel: die Verwicklung des hessischen Verfassungsschutzes in den Mord in Kassel im April 2006. Der VS-Beamte Andreas Temme war zur Tatzeit am Tatort, einem Internetcafé – das kann inzwischen als gesichert gelten.

Oder bei der Zeugin Silvia Sch. aus Hannover. Sie hatte 2006 dem Angeklagten Holger Gerlach unter anderem ihre Krankenkassenkarte überlassen, die der dann an Beate Zschäpe übermittelte. Zunächst blockt sie alles ab und versucht, sich als naive Zeitgenossin zu geben. Doch sie verwickelt sich immer mehr in Widersprüche. Unter anderem benutzt sie die verräterische Formulierung, sie kenne „diese Beate“ nicht. Am Ende ihrer stundenlangen Vernehmung werden „Strukturen“ des NSU sichtbar, die die These von der „Kleinstzelle“ erschüttern. Kein einsames Trio, sondern ein Netzwerk. Der Mann von Silvia Sch., Alexander Sch., ist schon lange und eng mit Holger Gerlach befreundet. Der wiederum stand bis zum Jahr 2011 in regelmäßigem Kontakt zum Trio.

Wie sich im Gericht die Rollen verschieben, zeigt sich bei der Vernehmung von André Kapke, einem der führenden Leute der thüringer Neonaziszene von damals. Nach der Richterbank wechselt das Fragerecht zur Anklage. Den vier Vertretern in den roten Roben fällt keine einzige Frage ein. Die Nebenkläger haben 400. Kapke mauert zwar fundamental, doch die Opferanwälte haben den ganzen Nachmittag das Wort und transportieren mittels ihrer Fragen Hintergrundformationen und Sachverhalte in die Öffentlichkeit.

Indem er tatsächlich aufklärt, wird der Prozess zu einem politischen Faktor. Zeugen vertrauen sich ihm an, die bisher nicht geredet haben. Dazu zählt Veronika von A. aus Dortmund. Sie will kurz vor dem achten Mord an Mehmet Kubasik am 4. April 2006 das Trio zusammen mit zwei Männern im Garten des Nachbargrundstückes gesehen haben. Sie identifiziert Zschäpe im Gerichtssaal. War die Angeklagte also auch persönlich bei mindestens einem Mord anwesend? Davon war die Bundesanwaltschaft bisher nicht ausgegangen. Noch brisanter ist allerdings, dass die Zeugin das Trio zusammen mit zwei Dortmundern gesehen haben will. Ein Hinweis auf Helfer oder Mittäter vor Ort?

Beachtung verdient auch das Verhalten der Verteidigung von Beate Zschäpe. Nach den anfänglichen strafprozessualen Pflichtübungen, wie das Stellen von Befangenheitsanträgen, verfallen die drei Anwälte der Hauptangeklagten in tiefe Passivität. Die wird im Zusammenhang mit der Tat von Heilbronn besonders auffällig. Denn die begründeten Zweifel an der (Allein-) Täterschaft der beiden Uwes, die im Fall des Anschlages auf die zwei Polizeibeamten im April 2007 besonders stark sind, müssten anzunehmender weise eine große Chance der Verteidigung sein, die Anklage anzugreifen und ihre Mandantin zu entlasten bzw. „freizusprechen“. Denn, wenn die Uwes nicht die Täter waren, kann Zschäpe keine Mittäterin gewesen sein. Doch Heer, Stahl und Sturm bleiben stumm. Kein Wort kommt über ihre Lippen, keine Frage, kein Antrag – in einer derart schweigenden Penetranz, dass man sich die Frage stellt, wessen Interessen sie eigentlich dienen und welchen Auftrag sie tatsächlich haben. Ähnliche Zweifel kommen auf, als die Opferanwälte den früheren hessischen VS-Leiter Lutz Irrgang kritisch befragen. Die Zschäpe-Verteidigung wirft sich derart vehement dazwischen und beanstandet Frage um Frage, dass ein Besucher verwundert aufmerkt:

„Wen verteidigen die eigentlich?“

Bei Irrgangs Vernehmung durch die Nebenklage kommt es sogar zu einer erstaunlichen Koalition zwischen Verteidigung und Anklage über die Parteiengrenze hinweg. Auch die Bundesanwaltschaft will die Nachforschungen der Opferanwälte unterbinden. Bundesanwalt Herbert Diemer bemüht die „Fürsorgepflicht“ für den

Zeugen Irrgang. Man müsse darauf achten, ob alles, was er sage, noch von seiner Aussagegenehmigung gedeckt sei, weil er sonst Schwierigkeiten bekomme. Prompt greift einer der Verteidiger von Zschäpe, Wolfgang Stahl, die Idee auf und setzt noch einen drauf: Die Fragen der Nebenklage stellten eine „Anstiftung zur Verletzung von Dienstgeheimnissen“ dar und seien unzulässig. Nützt der Schutz von Geheimdienstgeheimnissen etwa seiner Mandantin, einer mutmaßliche Rechtsterroristin?

Der NSU-Prozess in München ist Vieles, bloß kein herkömmlicher Strafprozess. Er ist einerseits die Inszenierung von Rechtsstaat – aber andererseits zugleich ein Forum der Opferfamilien und ihrer Anwälte, die Aufklärung der Hintergründe der Mordserie in der Öffentlichkeit voranzutreiben. Er zeigt vor allem: Der NSU-Skandal ist nicht vorbei. Er vollzieht sich bis heute und zum Teil vor aller Augen.

2 Gedanken zu „Inszenierung von Rechtsstaat – Ein Jahr NSU-Prozess, Teil 2“

  1. Obwohl sich das Wort Bundesanwaltschaft nach brutalst möglicher Aufklärung anhört ,scheint mir u.a. die deutsche Justiz insbesondere in Fragen des “rechten Terrors”,seit Jahrzehnten wie von einer dunklen Macht instruiert zu sein.
    Das ist wie bei einem schwarzen Loch .
    Man kann es nicht direkt sehen,nur an den Rändern entdeckt man bisweilen seine Auswirkungen.
    Die Sogkräfte sind dort so stark ,daß sie die Kompetenzen selbst einer Bundesanwaltschaft bei weitem übersteigen.
    Ich hab noch ein bescheuertes Sprachbild.
    Und zwar von einer zarten Grünpflanze ,die sich als
    Warheit repräsentierend, den Weg durch eine Schicht von
    12 Meter dicken Beton von Lügen nach oben bahnt.
    Und oben wartet schon “jemand”
    mit dem Flammenwerfer.
    Ich wünsche aus ganzem Herzen
    den Angehörigen der Opfer und deren
    Anwälten dermaßen viel Kraft,daß sie die Schwerkraft der
    Lügen mühelos überwinden werden.

  2. Mich interessiert brennend, ob nach dem Auffliegen des NSU keine Tötungsdelikte dieser Art mehr im türkischen Kleinunternehmer-Milieu stattgefunden haben.

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